…und sofort aus der Bar geflogen!

Dass Turku als das Arschloch Finnlands bezeichnet wird, das erfahre ich noch auf der Fähre, gehe dem vorerst jedoch nicht auf den Grund, das werde ich nachholen, sondern steige in den Zug nach Manchester. Denn so wird wiederum Tampere genannt, der Industriestandort Finnlands schlechthin und einstiges Zentrum der Arbeiterbewegung. Sogar Wladimir Illitsch Lenin war 1906 hier zu Gast und konferierte über Bedingungen und Möglichkeiten von Revolutionen.

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Tampere liegt zwischen zwei größeren und inmitten zahlloser kleinerer Seen, so dass von postindustrieller Tristesse gar keine Rede sein kann. Zwar hat Nokias Niedergang – Nokia heisst die Stadt am anderen Seeufer – wie man mir sagt, hier absolut jeden betroffen, doch ausreichend Industriezweige sind nach wie vor am Produzieren. Die Löhne sind hoch, die Steuern ebenso, die Lebenshaltungskosten desgleichen, so dass sich unter dem Strich ein ähnliches Niveau ergibt wie etwa in Dortmund oder Manchester – mit ähnlich hoher Arbeitslosigkeit. Genau wie diese Städte ist auch Tampere gewiss keine Schönheit, wenngleich die Backsteinbauten der untergegangenen Industrien ihren eigen Charme besitzen und dort Museen, kleine Märkte oder Restaurants eingezogen sind. Die Besiedlungsdichte ist relativ gering, ganze Viertel liegen in den Wäldern vertreut, ein Park oder ein See, eine Aussicht auf nordische Natur, ist stets so nah, wie ein Späti in Friedrichshain. Jetzt im Hochsommer ist die Stadt belebt, an allen Ecken und Enden gibt es Live-Musik und ich habe den Eindruck, dass die Hardrocker dieser Welt sämtlich ins finnische Exil gegangen sind, um von Tampere aus abzuwarten, dass das alles wieder Mode wird.

Die dennoch immer wieder aufscheinende, stille Gedrücktheit, oder die – wie ich es gerne nennen würde – finnische Verschrobenheit, hat andere Gründe und die erfahre ich schnell am eigenen Leib. Es gibt einige, durchaus sonderbare Regeln des Zusammenlebens, welche den Eindruck entstehen lassen, Finnland sei eine verkappte Diktatur und den Finnen staatlicherseits die Spaßhandbremse dauerhaft angezogen worden.
Beispiele: Alkohol darf zwar allerorten verkauft werden, aber nur von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends, Zigaretten desgleichen, ohne Zeitlimit zwar, aber die Glimmstengel dürfen nicht sichtbar sein im Laden. In den Bars darf man trinken, jedoch nicht betrunken werden, dazu gleich mehr, es gibt Raucherbereiche, in die man jedoch sein Getränk nicht mitnehmen darf, für die Biergläser gibt es spezielle Halterungen am Eingang der Raucherbereiche, weil auf dem Tisch sie auch keiner stehen lassen will, zu häufig werden K.O.-Tropfen hinzugegeben.
Zwar dürfen die Finnen, gesetzt sie haben ein Visum, nach Russland zum Einkaufen fahren, jedoch nur im Wert von 300 Euro und nur dann, wenn sie nachweislich mindestens 24 Stunden dort verbracht haben. Den recht sportlich betriebenen, privat organisierten Bierimport aus Estland will man demnächst unterbinden, das finnische Hobby, Autoreifen in Russland zu kaufen und dort aufziehen zu lassen, ebenso. Der Staat ist alarmiert, entgehen ihm doch auf diese Weise 24% Mehrwertsteuer, er sucht nur noch nach Mitteln. Das Staatswesen ist also auf  schräge Art und Weise  in unvermuteten Bereichen hochpräsent, regelt kleinste Details und steht irgendwie im Weg des natürlichen Laufs der Dinge. Daraus entspringt Schizophrenie.

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Ich treffe mich spätnachmittags mit meinen finnischen Freunden und wir begeben uns auf Sauftour: Eine Bar, ein Bier, dann weiter, das ist der Rhythmus. Auf mein Betreiben hin landen wir letztlich in einer unmodischen Bar, also dort, wo das Bier nur 4 statt 7 Euro kostet und Spielautomaten aufgestellt sind sowie ein Pokertisch. Es ist erst zehn, das Licht des Tages noch lange nicht weg, Yana, Timo und ich sind komplett im grünen Bereich, wir unterhalten uns angeregt über Kunstrasen (ich bin dagegen!), Jouni aber kommt langsam in Probleme. Es ist dessen „dritter Trinktag“, denn sein Kind ist seit vorgestern zurück bei der Mutter, und wenn er seinen Sohn wieder abgegeben hat, dann beginnt Jouni zu trinken. Viel Englisch spricht er nicht, man ist hierzulande etwas schüchtern bezüglich der Fremdsprachen, schuld ist das Schulsystem, entweder man ist perfekt oder eine Null, Jouni zählt sich zu den Nullen und trinkt wesentlich schneller als wir anderen. Er will kurz rauchen gehen, ich gehe mit und lerne, dass ich mein Bier abzugeben habe, bevor ich in den Raucherbereich eintrete, Jouni zeigt mir auf dem Handy Videos von dem Kleinen, auf Skiern, im Gokart, ein stolzer Vater auf Entzug. Ich lerne auch, dass der Raucherraum nur von einer durch Gesetz und Lizenz festgelegte Anzahl an Menschen benutzt werden darf, wenn einer rausgeht darf ein anderer dafür rein.

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Jouni mit dem letzten Bier…

Jounis nächstes Getränk ist kein Bier mehr, stattdessen Redbull mit irgendwas. Die Mischung zeitigt jedoch nicht die erhoffte sondern die gegenteilige Wirkung: Jouni nickt ein. Wir anderen unterhalten uns weiter angeregt über Kunstrasen (ich bin dafür!), als die Bar-Security hinzutritt und anscheinend unmissverständlich klar macht, dass wir zu gehen hätten. Wie ich erst anschliessend erfahre, denn ich verstehe rein gar nichts, hatte Timo sich noch erbeten, mit dem Rausschmiss zwanzig Minuten zu warten, denn dann würden wir  abgeholt werden. Dies fruchtet jedoch nicht, die Security bleib unerbittlich, wir müssen das Feld räumen! Timo weckt also Jouni, greift ihm unter die Arme und führt ihn hinaus. Yana erklärt mir die Lage: Ersichtlich intoxicated persons dürfen von Gesetz wegen nicht weiter bedient werden und müssen den Ort ihres Besäufnisses nach vollendeter Tat verlassen – was für mich nicht nur ein Widerspruch in sich ist, sondern angesichts des im Sitzen friedlich schlummernden Jounis und uns völlig untrunkenen, so angeregt wie ruhig diskutierenden Erwachsenen eine ziemlich krasse Entwicklung darstellt. Die ganze Szene aber hatte sich derart leise und wie selbstverständlich vollzogen, dass ich eher verblüfft bin denn verärgert: Um halb elf aus einer Bar zu fliegen, kaum 24 Stunden nachdem ich in Finnland angekommen bin, das muss man erstmal schaffen!

 

 hier mehr zum Kunstrasen: die fünf Stufen des Alkoholkonsums

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