Auch am Strand kann man sich verlaufen

Probleme sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sie ergeben sich aus der Unkenntnis des Terrains, aus mangelnder Erfahrung, und führen zu einer Fehleinschätzung der geplanten Unternehmung. Subjektive Gefahren nennt man solcherlei im Alpinismus, denn im Gegensatz zu den objektiven (Steinschlag, Sturm, Lawinen) lassen sich diese minimieren. Dass man auch auf einer geraden, ebenen Strecke wenn nicht scheitern, so doch in Probleme kommen kann, diese Erfahrung nahm ich aus Essaouira mit.

Das ist auf dem Kamelmarkt von Guelmin. Hat also voll gar nichts mit der Story zu tun, aber ich wollte das Foto endlich mal raushauen.

Ich hab dies schon an anderer Stelle notiert, aber ich wiederhole mich gerne: Im Ausland ist man ein Idiot. Man ist ein Idiot, wenn man mittags, wenn alles ruht, durch fremde Dörfer strolcht. Auf dem Teppichmarkt ist man ein Idiot, weil man weder die Preise kennt, noch die Qualitäten. Und man ist ein Idiot, wenn man einfach mal so beschließt, den Strand entlang bis zur nächsten Ansiedlung zu laufen, obschon man nicht genau weiß, wie weit diese entfernt liegt.

Von wegen wie die locals: diese Ausstattung stammt ganz eindeutig aus dem Rif-Gebirge und nicht aus Essaouira.

Der Grund, warum ich der Holländerin angeboten hatte, einen Ausflug zu machen, war ihre marokkanischen Bekanntschaft. Joan hatte die Mitte 30 überschritten und sah in manchen Momenten aus wie ein junger Hippie, in anderen wie eine Dame. Sie schien mir ein wenig naiv und ich versuchte ihr die Situation so gut als möglich zu erklären: Dass die Aufmerksamkeit, die häufigen Anrufe besagter Bekanntschaft ganz gewiss nicht allein freundschaftlicher Natur seien, sondern ein handfestes Interesse dahinter stünde.

Daran sei ja auch nichts falsch, es läge in der Natur der Dinge. Und vielleicht auch ein bisschen an ihrem Pass. Sie müsse sich lediglich über die nächsten Schritte und die unausweichliche Eskalation im Klaren sein. Und es könne in keinem Fall schaden, einen Tag lang von der Bildfläche zu verschwinden. Zum Beispiel indem sie sich mir anschließe, der ich anderntags die Strände nördlich von Essaouira in Augenschein nehmen wolle. So ein Ausflug während dem die Handybatterie ausfiele, sei doch die perfekte Entschuldigung. Außerdem: Eine Verschnaufpause habe noch niemandem geschadet.

Dächer Essaouira

Essaouira, centre.

Joan sagte zu, wir trafen uns am nächsten Morgen zum Frühstück und brachen auf. Mit der Kutsche ging es hinaus an den äußersten Stadtrand, also dorthin, wo Essaouira aus Betonblocks besteht und die Straßen breit und geradeaus laufen, bis plötzlich Schluss ist. Die Kutschen Essaouiras sind aus Metall sowie mit metallenen Reifen ausgestattet, sie stellen die günstigere Alternative zu den petit taxis dar und haben mit Romantik nichts am Hut. Der Strand beginnt unmittelbar im Anschluss an die letzten Häuserblocks und steht dem sichelförmigen Stadtstrand im Süden in nichts nach, wird aber kaum frequentiert.

Kutschen Taxis Essaouira

Taxistand.

Wir schlenderten hinaus, passierten das Abwasserwerk und standen irgendwann unschlüssig im Wind, vielleicht eine Stunde vom Stadtrand entfernt. Joans Handy war, wie ich ihr geraten hatte, ohne ausreichend Batterie, meines wies noch ein Prozent auf. Ich weiß noch, dass ich die Karte gerade geöffnet und den Ausschnitt gewählt hatte, sodass ein Dorf nördlich von Essaouira eingefangen war, die nächste Ansiedelung, als der Akku wegstarb. Die genaue Entfernung hatte ich nicht mehr überprüfen können, sondern lediglich die ungefähre Lage.

– Ich schätze 8 oder 10 Kilometer von hier, wir sind ja schon eine ganze Weile unterwegs.

– Genug Wasser haben wir dabei!

– Notfalls können wir immer noch über die Dünen klettern, dahinter muss die Straße sein.

– Also los!

Strand nördlich von Essaouira, geht keine Sau hin.

Der Strand war absolut gleichförmig, ja monoton, nur in der Ferne ließ ein im Sonnenlicht schimmernder Hügelkamm auf eine tektonische Veränderung schließen. Wir waren zwei Stunden unterwegs, als sich eine leichte Unsicherheit einzustellen begann, weil sich nichts, aber auch gar nichts, an der Umgebung änderte. Was hilft gegen Unsicherheit? Überblick hilft:

– Dann lass uns auf die Dünung steigen und nach der Straße sehen.

„Dünung“ allerdings ist eine Untertreibung, der Kamm der Dünen war so hoch wie ein mehrstöckiges Haus, durch den Sand hinaufzusteigen einigermaßen mühsam. Das ist aber nicht der Punkt, der Punkt ist, dass von da oben keine Straße mehr zu sehen war. Stattdessen kilometerweites, unberührtes Land mit Palmen und Gräsern, ohne Straße, ohne Landwirtschaft und ohne Menschen, welches sich weit ins Hinterland bis zu einem zweiten, fernen Hügelkamm erstreckte, hinter dem vermutlich die Straße lag. Ein Klos formte sich in meinem Hals, Joan schossen ein paar Tränen in die Augen:

– Oh mein Gott!

Tja, Blick ins Nichts. Im Normalfall ein Glücksfall, aber was ist schon normal…

Der unvermutete Blick in die menschenleere Weite war ein Schock, der dem Körper für kurze Zeit jegliche Energie nahm, die Knie weich machte. Eine Entscheidung musste her, ansonsten ginge uns die Souveränität flöten und damit das notwendige Durchhaltevermögen. Wir dachten, umzudrehen wäre zwar die sichere Bank, würde uns aber mehr sicherlich Zeit und damit Wasser kosten als das Weitergehen. Wir lagen falsch, denn wir hatten noch nicht einmal die Hälfte der Strecke geschafft, aber das wussten wir nicht und verständigten uns daher darauf weiterzugehen. Sand ist wie Schnee, er kostet Kraft und man schafft weniger Distanz, als man glaubt, hinter sich gebracht zu haben. Kommt noch Wind und schlechte Sicht dazu, dann verschätzt man sich völlig.

Über dem Strand lag ein flirrender Nebel aus Gischt und aufgewirbeltem Sandkörnern, sodass es unmöglich war, Dinge aus der Entfernung mehr als schemenhaft auszumachen. Eine erhoffte Bar, ein hölzerner Verschlag an einer Flussmündung entpuppte sich beim Näherkommen als ein angeschwemmter Baumstamm, in dessen Ästen sich eine Plastikplane verfangen hatte. Dann aber machten wir in der Ferne endlich eine Silhouette aus, die sich in der Tat zu bewegen schien. Ein paar Minuten später waren wir sicher, dass sie auf uns zukam, konnten aber nicht ansatzweise sagen, worum es sich handelte.

Da zieht er von dannen, der freundliche Kollege: Nach Essaouira.

Dann aber schälte sich langsam eine Figur aus dem reflektierenden, glitzernden Nebel: eine Person auf einem Esel. Dies ließ nur einen Schluss zu, nämlich, dass der Reiter unterwegs nach Essaouira war und von dort kam, wo wir hin wollten. Eine zweite Möglichkeit gab es nicht. Er würde uns sagen können, wie weit es noch war! Als er nahe genug gekommen war, sprach ich ihn an, schilderte unser Anliegen. Der Mann lachte, machte wilde Handbewegungen und gluckernde, unverständliche Laute. Er war stumm, er konnte sich nicht artikulieren. Ich wiederholte den Namen des Dorfes und er wies erneut bestätigend in die Richtung, aus der er gekommen war.

Wir waren so schlau wie zuvor, aber dennoch hatte die Begegnung unsere Moral gestärkt, denn er hatte sich nicht entsetzt gezeigt, sondern unterstützend, und wir legten an Geschwindigkeit zu, kamen mit einemmal in eine andere Natur, mussten uns im knietiefen Wasser um ein paar Felsen herumarbeiten und liefen dann durch einen schillerndgrünen Teppich aus Algen weiter, später durch Salzgras. Schließlich kam mit dem kleinen Leuchtturm das Dorf am Horizont doch noch in Sicht.

Es dauerte noch eine knappe Stunde, bis wir die ersten Wege und schließlich die Häuser erreicht hatten. Wir wollten unbedingt etwas essen und trinken, aber es gab nichts. Ein Fahrer, der uns nach Essaouira zurückbringen würde, war hingegen schnell gefunden. Der Kleinwagen mit dem wir auf der Inlandsstrecke, die in der Tat einen weiten Bogen schlug, transportiert wurden, war unfaßbar klapprig, schepperte und klirrte, der Motor jaulte in Agonie.

Noch vor Sonnenuntergang saßen wir müde aber endlos zufrieden in der Kashba und genossen mehrere kühle Biere – in meinem Stammcafé, dessen Eigentümer einen Tisch jenseits seiner Markise platziert hatte, der einzige, an dem Alkohol serviert wurde. Nur abends stellte er ihn auf: Alles, was sich unter der Markise befand, war sein Café, alles andere ging ihn nichts an. Joan lud ihr Handy auf, sie hatte 23 entgangene Anrufe.

 

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