Korostiv: Ukrainische Waldkarpaten

Von Lemberg ist es etwa eine Stunde mit der Bahn in südlicher Richtung, alsbald kündigen die ersten Hügel die Karpaten an, genauer: die ukrainischen Waldkarpaten. Hoch ist der Gebirgszug nicht, die Gipfel liegen nur wenig über 1200 Meter. Dennoch ändert sich spürbar das Wetter, morgens um neun ist es noch kühl und die ersten Bäume zeigen herbstliches Gelb. Sie brennen vom Wipfel aus ab.

Skole, Markttag

Skole, Markttag

In Skole steige ich aus, denn von hier aus führt ein markierter Pfad auf den Höhenzug und später hinüber in das Nebental, das Tal des Dorfes Korostiv. Der Tag ist traumhaft, aber dies ist nicht meinem Glück geschuldet, sondern einigen Tagen des Abwartens in Lviv, bis der Regen sich gelegt hatte und alle Zeichen günstig schienen. Naja, fast alle Zeichen, denn Orest, mein Kontaktmann für die Unterkunft in Korostiv war etwas unkooperativ und hatte darauf bestanden, mir ein Taxi zum Bahnhof zu schicken, was ich jedoch rundheraus ablehnte und sagte, mit meiner Ankunft sei erst gegen fünf Uhr nachmittags zu rechnen. Ich merke: Die Dinge wiederholen sich, Situationen dieser Reise beginnen einander zu gleichen. Wieder will die lokale Bevölkerung verhindern, dass ich allein über den Berg gehe. Diesmal kommt noch eine Eskalationsstufe hinzu, denn Orest treibt binnen einer halben Stunde jemanden auf, der des Deutschen mächtig ist, um mir am Telefon das Vorhaben auszutreiben.

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Umsonst versteht sich und ohne Grund obendrein. Denn das Bergland bei Skole ist ein altes, müdes. Die Bergrücken sind sanft und die Wege ausgezeichnet – ganz zu schweigen davon, dass es keine zwanzig Kilometer sind bis hinüber ins andere Tal. Es ist Wandern und nicht Bergsteigen, was ich unternehme. Warum es Waldkarpaten heißt, wird schnell verständlich, denn der Pfad bergan führt durch dichte Buchenwälder, urtümlich und unberührt, nur der Weg ist freigeschlagen, links und rechts liegen noch die Baumstümpfe. Wann immer einer der Giganten krachend fällt, muss Abhilfe geschaffen und der Weg wieder freigemacht werden.

Düster, feucht und ohne Ausblick ist kilometerlang der Weg durch den Wald, die Sonne steht im Zenit, als ich den Kamm erreiche. Sie scheint dort auf Heideland, überall stehen Blaubeeren, welche schon herbstlich verdorrt sind,  aber dennoch eine Vielzahl kleiner Früchte tragen. Auf der gesamte Strecke begegne ich nur zwei Pilzsammlern, welchen ich noch zu allem Überfluss den Weg weisen kann, denn sie schicken sich an, zur falschen Seite abzusteigen. Mit freiem Oberkörper durch die Natur zu streifen, der Sonne, den Ästen, den Spinnen und Mücken volle Angriffsfläche zu bieten, das muss von hier bis zur Kamtschatka ein Volkssport sein, der die slawischen Völker eint. Selbst auf dem Balkan erkennt man ein serbisches Dorf daran, dass die Männer oben ohne rumlungern.

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Wüsste ich nicht um die harte Arbeit, den mageren Lohn, das teure Benzin und den noch teureren Strom, der Abstieg ins Tal wäre ein Märchentraum. Begleitet von Hahnenschreien, anschlagenden Hunden, vorbei an säuberlich aufgeschichteten Heuhaufen, an sorgsam gestapelten Holzscheiten, komme ich so pünktlich in Korostiv an, dass ich fast geneigt bin, noch eine Pause im Magazin einzulegen, um nicht sofort sämtliche Vorurteile zu bestätigen. Daraus aber wird nichts, denn dort tagt ein Kränzchen ukrainischer Matronen, welches alle vier verfügbaren Plätze besetzt hält und mich nach allen Regeln der Kunst abfertigt.

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Ich bin der Dame des Hauses angekündigt worden und werde als einer der äußerst seltenen deutschen Touristen von ihr via Telefonanruf aus Kiew willkommen geheißen. Lange hatte sie in Deutschland gelebt, jetzt aber verteilt sie ihre Zeit und vermutlich auch ihr Erspartes auf Lemberg, Kiew und eben Korostiv. Das Gehöft ist ein hölzernes Kleinod und geprägt von Geschmack, Sachverstand und Annehmlichkeiten, die mich an Österreich oder die Schweiz denken lassen. Wann und wo gab es zum letzten Mal Federbetten? Wann eine Duschkabine?

Unterkunft in Korostiv

Unterkunft in Korostiv

Ich wurde dringend aufgefordert, im Gästebuch eine Nachricht zu hinterlassen, was ich anderntags auch tat und es nicht lassen konnte zurückzublättern, mit ernüchterndem Ergebnis. Denn es sind nur einige wenige Seiten, höchstens eineinhalb Dutzend, die seit 2010 mit Grußbotschaften versehen worden sind. Der übergroße Teil ist in kyrillischer Schrift, ein paar aber auf Englisch, meist verfasst von ukrainischen Kanadiern oder kanadischen Ukrainern, die es auf Besuch in der ehemaligen Heimat auch in die Karpaten verschlagen hat. Ganz in der Nähe hat jemand ein kleines Hotel hingesetzt – zusammen mit einem riesigen Restaurant inklusive eigenem Fischteich. Wann, frage ich mich, wann wird die Welt diesen Landstrich entdecken, die Waldkarpaten, nur eine Stunde südlich von Lemberg? Am Telefon hatte mir die Eigentümerin erzählt, wie schwer es sei, insbesondere Westdeutschen einen Ausflug nach Osten anzuempfehlen, es würde fast sofort mit Ablehnung reagiert, mit reflexhafter, grundloser Ablehnung. Wahrscheinlich muss erst Ryanair Lemberg anfliegen, damit dies ausstrahlt auf die Waldkarpaten. Allen, die es noch vorher schaffen, meinen Glückwunsch!

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