Nowa Huta: die erträumte Stadt

Wer die Frankfurter Allee in Berlin kennt, hat eine ungefähre Vorstellung von Nowa Huta. Nur dass Nowa Huta kein einsamer Schnitt, keine Trennlinie durch ältere Viertel ist, sondern eine komplette Stadt: 1949 gegründet und so streng angelegt wie ein barocker Garten, der Traum von der sozialistischen Planstadt, dem katholisch-interlektuellen Krakau vor die Haustür gesetzt. Fast eine Viertel Million Menschen wohnen hier.

NH_Hotspot1

Nowa Hutas Spielhölle, große Karrieren nahmen hier ihren Anfang

Ein halbes Achteck, fünf Alleen wie fünf Finger ausgestreckt, von denen einer auf den Eingang zum Eisenwerk zeigt: Das sommerliche Nowa Huta ist grün, großzügig und erstaunlich ruhig. Die zentrale Achse ist die Aleja Roz, den Fussgängern vorbehalten, sowie dem zentralen Restaurant und der obligatorischen Milchbar, in der es zwar keine Milch gibt, jedoch Essen in Kantinenatmosphäre zu Preisen auf den Groszy genau kalkuliert: 1,43 oder 2,85 oder 7,56 steht auf der Tafel geschrieben. Allerdings ist das kompott alle, als ich mit Lidka und Maciek aufschlage: der gekühlte Saft eingelegter Früchte, der hier sommers überall ausgeschenkt wird und eine Freude ist. Die Milchbars heißen übrigens Milchbars, weil es dort früher zum Frühstück allerhand Milchgerichte gab, Kasza mann, Grießbrei, Reisbrei oder Macaroni in heißer Milch. Lidka erinnert sich mit Grauen an letzteres.

NH_milchbar1

Keine Milchbar ohne Wärterinnen.

Lenins Standbild grüßte gegenüber der Milchbar täglich die Werktätigen und die vorbeifahrenden Trams, wurde aber nach ´89 flugs abgebaut und wie es heißt nach Schweden verkauft. Lidka ist aus Nowa Huta und sie hätte Lenin gerne im flachen, künstlichen See versenkt, ihn so hineingelegt, dass das spitzbärtige Gesicht, die halbe Glatze und der fortschrittliche Gestus noch halb aus dem Wasser geragt hätten. Ganz sicher wäre dies jetzt die Attraktion, der Lenin, der nach vierzig langen Jahren in Nowa Huta Baden gegangen ist.

Lenin  ist jedoch überraschend wieder aufgetaucht in Nowa Huta, ein paar Jahre später, jedenfalls wenn man Macieks Großmutter glaubt. Diese war eines Tages halb erschrocken, halb belustigt nach Hause gekommen und hatte berichtet, Lenin sei wieder da. Doch, doch, ganz sicher: Sein Konterfei hinge wieder in der Straße, weithin sichtbar. Und auf rotem Grund. Die Haare hätte er sich wachsen lassen und ein wenig freundlicher blicke er drein. Überdies trüge er jetzt Brille. Ansonsten: Irrtum ausgeschlossen. Schnell klärte sich die Angelegenheit auf, noch heute trifft sich die Jugend „bei Lenin“, sobald es in die Kentucky-Fried-Chicken-Filiale im Osiedle Przy Arce geht. (Filiale: lat. filius, der Sohn = Lenins Nachwuchs)

NH_trinker1

Die Bar zu den zwei Würfeln, gegenüber dem Eingang zum Stahlwerk.

Die Bar zu den zwei Würfeln ist selber einer: ein viereckiger Verhau aus Stahlblech, drinnen fünf Tische, ein Tresen, drei Spielautomaten und ebensoviele Trinker, draußen eine schmale Bank entlang der Wand, eine Armlänge davor ein Gatter, dahinter, über der Straße schon, der Eingang zum Kombinat, die Werks-Tore. In den Siebzigern waren es 20.000 Arbeiter, die hier pro Schicht einliefen, 20.000 Menschen, die alle zum selben Zeitpunkt an Lenin vormussten, um in die Trams zu steigen und wenig später in die Fabrik zu strömen. Jetzt sind es gerade noch 4000 und das Werk gehört inzwischen zum transnationalen Konzern des indischen Stahl-Magnaten Lakshmi Mittal. Die Bar ist auch keine Arbeiterbar mehr, die Bar ist eine Arbeitslosenbar. Wir sitzen draußen, die späte Sonne bescheint die burgartigen Verwaltungsgebäude des Stahlwerks, sie stehen leer, werden nicht mehr gebraucht. Wenn er wählen müsste, zwischen dem heutigen Krakow und Nowa Huta, er würde Nowa Huta wählen, sagt Maciek, Nowa Huta sei ehrlich.

Neue Beiträge per E-Mail erhalten