Taroudant: die Definition der Stadt
Ende und Beginn
Südlich des Atlas-Gebirges, keine hundert Kilometer landeinwärts von Agadir, inmitten der fruchtbaren Sous-Ebene liegt die alte Stadt Taroudant. Aufgrund der mittelalterlichen Mauern, der Souks und der engen Gässchen wird Taroudant oft als kleine Schwester Marrakeschs bezeichnet.
Taroudant hat ungefähr die Ausmaße des historischen Stadtkerns von Nürnberg, ist also gemessen mit mittelalterlichem Maßstab eine riesige Stadt. Der Vergleich mit der ausufernden, lauten und bedrängenden Metropole Marrakesch aber läuft fehl, denn im Gegensatz zu dieser endet Taroudant mit den aus Lehm errichteten Stadtmauern, Taroudant beginnt an seinen Toren.
Daher, und das ist das Verwirrende, zeigt sich Taroudant dem Besucher fast genauso wie vor 500 Jahren: klar begrenzt, abgeschirmt vom Umland, abweisend und einladend zugleich.
Lehm und Beton
Taroudant ist zum größten Teil aus Beton gebaut, doch sind Struktur und Bauweise noch dem Lehmzeitalter geschuldet. Die Häuser stehen eng, sind verschachtelt und verschoben, Neubauten wechseln sich mit Hütten und Verschlägen ab, auf eng bebaute, wildwuchernde Abschnitte folgen unvermittelt Lichtungen.
Nur zwei, drei Straßen durchziehen Taroudant in vorhersehbarer Weise. Wie Adern auf einem Baumblatt stoßen Gassen und Gässchen links und rechts davon in die Viertel vor, laufen im Zickzack, enden nirgends oder blind, keinesfalls aber dort, wohin man dachte, dass sie einen führen würden. Schnell gerät man auf Abwege und verliert sich unweigerlich in der schieren Größe, Vielfalt und Unübersichtlichkeit dieser Stadt, die mehr Stadt ist als andere.
Ich brauchte Tage der Übung, um Taroudant schließlich von einem Ende zum anderen zielstrebig durchschreiten zu können. Ich benötigte Tage der Orientierung, um meinen Orient wiederzufinden, an den ich mich dennoch nicht ganz gewöhnen konnte.
Das Seltsame
Das Seltsame war, dass niemand mit mir sprach, dass niemand mich ansprach, etwas von mir wollte, mir einen Gegenstand, ein Haus, einen Bus zu zeigen hatte. Ganz allein und völlig unbehelligt saß ich im Kaffee, erwanderte die Stadtmauern oder ging zum Wochenmarkt.
Erst war mir die Erholung angenehm. Schnell aber fühlte ich mich isoliert. Schließlich wurde mir die Unsinnigkeit meiner Anwesenheit bewusst: Ich war nur deswegen in Taroudant gelandet, weil ich es auch wieder verlassen konnte, jederzeit, ganz wie es mir beliebte.
Nichts außer mir aber war beliebig in Taroudant. Alles gehorchte einer Ordnung, hatte seinen ureigenen Platz im sozialen Gefüge der Stadt, im Ablauf und Rhythmus der Tage. Nur ich hatte keinen Platz, ich streunte durch die Straßen, ohne Aufgabe, ohne Nächsten und ohne eine Ahnung wo ich war.