Thessaloniki III: Die Krisen und wem sie gehören
Ich bin zurück im Hafengelände von Thessaloniki. Es ist heiß wie im Sommer, die Luft steht und die Verladekräne schweigen, obschon draußen in der Bucht vier Containerschiffe vor Anker liegen. Wahrscheinlich bringen sie Ware aus Fernost, Einwegbecher für den Caffe Freddo, billige Kleidung, Haushaltsartikel, und die Zollpapiere sind noch nicht unterzeichnet. Oder aber sie haben tiefgefrorenen Fisch geladen – abgefischt vor der Küste Senegals – der dann auf den Inseln landet und den Touristen serviert wird.
Auch diesmal verschafft mir Thessaloniki Unbehagen. Als zeige sich hier ein Zusammenhang, dem ich so lange nachdenken muss, bis ich ihn begriffen habe und ihn formulieren kann. Das Wort von der Krise ist dafür mein Ausgangspunkt: Denn das griechische Wort κρίσις oder krísis bezeichnet eine sich zuspitzende, problematische Situation, die nach Entscheidung verlangt (von gr. krínein: scheiden, trennen, auswählen). Die „griechische Krise“ aber geht bald in das zehnte Jahr. Sie ist also im Wortsinne gar keine Krise, sondern ein Kreislauf der mutwillig herbeigeführten Verarmung.
Es war in Deutschland nur eine Randnotiz wert, dass der Chef der griechischen Statistikbehörde, Andreas Georgiou, sich 2015 vor Gericht gegen den Vorwurf verantworten musste, die griechischen Verbindlichkeiten für das Jahr 2009 hochgerechnet und dergestalt den harten Sparmaßnahmen, die wiederum zu einem massiven Rückgang des Bruttosozialprodukts führten, den Weg geebnet zu haben. „Defizit zu hoch? Statistiker verklagen!“ titelte damals ebenso höhnisch wie uninformiert die FAZ. Uninformiert deswegen, weil der Hinweis unterblieb, dass Georgiou bis zu seiner Amtsübernahme am 2. August 2010 mehr als zwanzig Jahre lang auf der Gehaltsliste des IWF stand – des Internationalen Währungsfonds also. Das ist zumindest bemerkenswert, weil der IWF aufgrund seiner Einlagen in den „Rettungsschirm“ zu den Gläubigern Griechenlands zählt.
Aber ich will auf etwas anderes hinaus: Wir haben keine „Krise des Kapitalismus“. Ganz im Gegenteil: Der Kapitalismus triumphiert in der Krise. Der Neoliberalismus ist nicht am Ende, er fährt die vielmehr die Ernte ein. Der Flughafen von Thessaloniki sowie weitere dreizehn Regionalflughäfen Griechenlands werden inzwischen von der Fraport AG betrieben. Die Krise, die Erschütterung von Lebensbedingungen, stellt die Maximierung von Profit nicht in Frage, sondern erleichtert dessen Durchsetzung. Die Währung, in der die Löhne bezahlt werden, ist nicht mehr die Aussicht auf Mehrung der Besitztümer, die Währung, die das System am Laufen hält, ist die Angst. Die Angst vor dem sozialen Abstieg, die Angst, nicht partizipieren zu können, zu verschwinden. Die Angst vor dem Hunger.
Dabei sollte es genau umgekehrt sein. Wir sollten Angst haben vor Wirtschaftsmechanismen, die es mit einem Wimpernzucken hinnehmen, dass sie die Lebensgrundlagen ganzer Bevölkerungen zerstören. Dass sie außerhalb der Hoheitsgewässer dem Senegal den Fisch wegfischen, auf dass in den griechischen Touristentavernen der Tisch gedeckt bleibt. Die nach weitergehender und wohlmöglich jahrelanger Forschung verlangen, bis sie einsehen, dass die Ausbringung von Glyphosat und Neonicotinoiden eventuell mit dem Insektensterben in Zusammenhang steht. Und dass das Insektensterben wiederum mit dem Rückgang der Singvögel zu tun hat – was der FAZ zwei verschiedene Meldungen wert war. Lustig eigentlich, wenn es nicht so tragisch wäre: Dass auch dann noch gemessen, verifiziert und überprüft wird, wenn es längst ans Eingemachte geht. Wie fremd sind wir der Welt geworden, wie fremd uns die Welt?
Unsere Lebenswelt wird vernichtet. Dies ist in Marokko nicht anders als in Andalusien oder in Finnland. In Marokko ist es die Dürre, in Andalusien der Mangel an Schnee auf der Sierra Nevada, der sonst das Klima ausgleicht, in Finnland sind es die höheren Temperaturen im Winter, aufgrund derer die Eishockeyfelder tagsüber Risse bilden und unbespielbar werden. Im griechischen Makedonien werden kleine Weinbauern von der EU dafür bezahlt, ihre Reben rauszureißen, an der rumänischen Schwarzmeerküste dürfen die alteingesessenen Fischer nicht mehr dann ausfahren, wenn es ihnen richtig erscheint, sondern wenn es der ihnen zugeteilte Slot erlaubt. Die Landschaften Mittelschwedens wirken deswegen so aufgeräumt, weil massenweise Herbizide zum Einsatz kommen. In Mazedonien blüht noch der Klatschmohn, weil keiner sich den Kram leisten kann. Es geht um ganze Landschaften, um traditionelle Lebensweisen und um unser täglich Brot.
Die Krise ist zyklisch, die Krise ist allgegenwärtig. Um die Renten zu retten, muss das Rentenalter rauf. Macron nutzt gerade die französische Krise dazu, mal eben die Vermögenssteuer abzuschaffen. Das Versprechen ist jeweils, die Krise zu überwinden. Das aber wird ganz bestimmt nicht passieren. Die Krise dient finanziellen Interessen und sie ist politisch nützlich, sie lässt sich vor den Karren spannen. Da aber eine Krise die andere jagt und eine Diskussion die nächste, sind wir viel zu beschäftigt, darüber nachzudenken, was hier eigentlich auf dem Spiel steht. Was soll denn noch passieren? Einen lauteren Alarm als das Bienensterben und der Rückgang der Insektenpopulationen um 75% innerhalb von knapp dreißig Jahren kann es nicht geben.
Ich weiß auch nicht, ob sich nationale Regierungen oder supranationale Bürokratien überhaupt dazu eignen, praktische, lokal durchführbare Lösungen zu finden bzw. Strategien entwickeln, wie wir erfolgreich und nachhaltig wirtschaften und Handel treiben können. Wenn, dann müssen wir sie dazu bringen, von alleine wird da nicht viel passieren. Ich weiß nur, dass Thunfisch in Dosen zu 1,99 nicht funktioniert. Ich weiß nur, dass das Angebot unserer Supermärkte eine Täuschung ist, die auf Ausbeutung beruht, auf der Ausbeutung von Menschen und den Gewässern, beispielsweise vor dem Senegal. Ich fürchte, wir müssen das selber regeln. Und darüber sollten wir reden. Wie wir das organisieren wollen, zusammen. Das Leben.