Der Steirer-Hannes, der Vorarlberger und ich
Dass es auf einem Weitwanderweg mit jeder Etappe ein bisschen mehr zugeht wie auf einem Schulausflug, das liegt daran, dass die Landschaften und Orte wechseln, nicht aber die Menschen, die sich zur gleichen Zeit auf den Weg gemacht haben. Man trifft sich, redet, läuft getrennt weiter, nimmt vielleicht einen anderen Weg, steigt in einer anderen Herberge ab, und sieht sich tags darauf doch wieder und landet irgendwann im Gebirge im gleichen Refugio, weil es dort schließlich nur noch das eine gibt und das nächste einen halben Tag weit weg ist. Fünfzig Kilometer bin ich mit dem Steirer-Hannes gemeinsam gelaufen, das ist nicht wenig. Die Namen der Berge, ja sogar die Ortsbezeichnungen, die Unterkünfte, all das ist schnell vergessen, weil es jeden Tag aufs Neue um Essentielles geht: was essen, wo schlafen, wie wird das Wetter? Was aber bleibt, das sind die Wandergefährten.
Mister Tweed, so hatte er mich getauft, weil ich angesichts des aufziehenden Schlechtwetters im Jacket über der Karte saß, als er mich am Einstieg zur Serra des Puntals einholte: Hannes, dessen knallorangene Daunenjacke („Ja wöns mi zamhaut, dann wui i scho, das mi di finden!“) ich schon auf dem vorhergehenden Hochebene weit hinter mir gesehen und mich gefragt hatte, wer da mit schnellem Schritt Meter um Meter aufholt, dessen Namen ich aber erst in Estellences erfahren würde – Stunden nachdem ich den Küstenweg dann doch der Bergstrecke vorgezogen hatte, Hannes aber ebenso wie Dirk, der Schlächter, bei Nebel und Nieselregen über das schlecht bis gar nicht ausgeschilderte Hochplateau gegangen war.
Mit dem Schlächter hatte ich bereits auf La Trapa biwakiert, den Beinamen bekam er jedoch erst ein paar Etappen später im Hochgebirge, nachdem er mehrfach unter Beweis gestellt hatte, von zwei Optionen verlässlich die unvernünftigere zu wählen. Der Steirer-Hannes wurde aufgrund des zügigen Schritts und seiner Profession zum Sturmfriseur, hätte aber auch Umwegler heißen können, aufgrund der Neigung sich alle Naslang zu verrennen und das Feld von hinten aufzurollen. Am Aufstieg von Soller wähnte ich ihn die ganze Zeit vor mir, dachte er würde auf mich warten, irgendwo dort oben, wie wir es ausgemacht hatten, da tauchte er auf einmal hinter mir auf, weil er zwischendrin abgebogen und an der falschen Bergseite aufgestiegen war.
Daneben gab es die Dame mit dem Alkoholproblem (eine Flasche Rotwein kostet in den Refugios sechs Euro, mehr muss man dazu nicht sagen), Blond und Grau, die stets nebeneinander gingen, ferner das Doppelpack sowie den Vorarlberger. Der Vorarlberger benötigt als einziger keinen Spitznamen, weil Vorarlberger im Ausland so selten sind, dass die Gattungsbezeichnung völlig ausreicht. Der Vorarlberger hatte mit seinen knapp dreißig Jahren kein Mobiltelefon, keinen Facebook-Account, wohl aber seine gutüberlegten Prinzipien, nämlich zum Beispiel, kein Transportmittel zu benutzen, während er auf einem Trail unterwegs ist, komme was da wolle (an den zwei Regentagen habe ich den Bus benutzt). Er ernährte sich hauptsächlich von Trockenmilchreis und hatte dem Bundesheer ein Kochgeschirr entwendet. Der Steirer und der Vorarlberger verstanden sich blendend, nicht nur aufgrund der gemeinsamen Nationalität, sondern auch wegen gemeinsamer Fernseherlebnisse: Beide hatten eine Dokumentation auf Arte über den Tramuntana-Trail gesehen, die von dem Briten Bradley Mayhew moderiert wird. Anfangs hielt ich den Brädlie für einen gutinformierten Mitwanderer, dessen Bekanntschaft ich leider nicht gemacht hatte. Was ich nicht wirklich bedauerte, denn der Brädlie schien ein ziemlicher Klugscheißer zu sein. Erst auf Nachfrage klärte sich das Missverständnis.
Mit dem Steirer-Hannes und dem Vorarlberger bin ich dann auch die letzte Etappe gelaufen, vom Kloster Lluc über ein paar Hügelketten hinunter nach Pollença. Die Dame mit dem Alkoholproblem war ausgestiegen, die letzte Strecke wegen, wie sie sagte “mangelnder Schönheit” nicht gegangen – was weder das Doppelpack noch ich, noch der Steirer oder der Vorarlberger bestätigen können. Blond und Grau wahrscheinlich auch nicht, aber die sind verloren gegangen und nicht im Refugio abgestiegen, wo wir gegen vier eintrafen, sondern vermutlich sofort nach Palma weiter. Der Schlächter wiederum traf erst bei Dunkelheit ein, weil er abgeschweift war und noch einen Berg mitgenommen sowie einen Weg “entdeckt” hatte, sofern man Wege überhaupt “entdecken” kann, was ich hiermit bezweifle.
Apropos Refugio: dieses befindet sich am Ortseingang von Pollença, der Steirer und ich warfen sofort nach dem Eintreffen die Rucksäcke ab und wollten ein Bier, der Vorarlberger aber warf sein Veto ein. Denn der Brädlie hätte gesagt, dass der Tramuntana-Trail auf dem Plaça Mayor von Pollença enden würde und zwar nur dort! Gut, wenn dem so ist und der Brädlie das sagt, den einen Kilometer gehen wir auch noch! Sprachen es, taten es, fanden den kleinen Platz an der Kirche, setzten uns an einen freien Tisch, bestellten Bier und stießen auf das an, was hinter uns lag. Dumm nur, dass wir mitnichten am Plaça Mayor saßen, sondern am Plaça Seglar, nicht minder schön, aber 200 Meter vom offiziellen Trailende entfernt! 200 Meter, die uns jetzt genau genommen fehlen, jedenfalls wenn es nach dem Brädlie geht.
Hier gehts zum Brädlie, wenns denn der Wahrheitsfindung dient…