Was in Uman geschieht, bleibt in Uman

Dass Uman, auf halbem Weg von Kiew nach Odessa, gut 80.000 Einwohner hat, das muss man wissen, das lässt sich nicht erahnen. Zwar ist der kleine Busbahnhof gegen Mittag durchaus voll und alle par Minuten fährt eine Marshrutka nach Cherkassy oder nach Kiew, zwar reiht sich in der belebten, zentralen Straße Laden an Laden, Café an Café, sogar eine Pizzaria gibt es, ansonsten aber hat Uman ganz und gar ländlichen Charakter: ein Konglomerat von Dörfern mit Zentralachse. Wäre ich der Hauptstraße gefolgt, hätte ich nicht auf kleineren, unbefestigten Straßen gequert, dann wäre mir das Apartmenthaus „Zion“ ebenso verborgen geblieben wie der große, sehr gepflegte jüdische Friedhof. Ich hätte die Pushinka-Straße nicht gefunden, welche voll ist von Schildern auf Hebräisch, auf welcher drei kleine orthodox-gekleidete Jungen spielen, die aber rechtzeitig in Deckung gehen, als ich fotographieren will.

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Das einstige religiöse Oberhaupt der chassidischen Juden in der Ukraine, Rabbi Nachman, hatte es zu seinen Lebzeiten versäumt, einen Nachfolger zu bestimmen, so dass er auch nach seinem Tod, welcher über zweihundert Jahre zurückliegt, oberster Gottesvertreter seiner Kirchensektion geblieben ist. Er liegt eher zufällig in der Nähe seiner letzten Wohnstätte im tscherkassischen Uman begraben, mitten im Nichts der ukrainischen Weite.
Dieses Grab ist seit 1988 zur jährliche Pilgerstätte von abertausend orthodoxen, chassidischen Juden aus Israel geworden. Glück soll es bringen, das jüdische Neujahrsfest betend an Rabbi Nachmans Begräbnis zu verbringen, und nach diesem Glück streben Jahr für Jahr mehr Gläubige. Die logistische Schwierigkeit besteht darin, dass Frauen und Männer nicht gemeinsam beten oder pilgern dürfen, weshalb die Frauen ihren Angetrauten die Wohnung richten, vorkochen und für weltliches Wohl sorgen, dann jedoch abreisen und die Männer ihren spirituellen Tätigkeiten überlassen.
Die israelische Zeitung Haaretz gibt die Kosten einer solchen Reise mit 1700 Dollar pro Woche an, was mir auch dann erstaunlich hochgegriffen scheint, wenn man bedenkt, dass sich in Uman eine hochspezialisierte Fremdenverkehrsindustrie etabliert hat, die auf Hebräisch Hotels, Restaurationen und Lebensmittelläden annonciert, deren Preisniveau gewiss um ein Vielfaches über dem ortsüblichen liegt.

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Überhaupt wartet die Haaretz mit ganz erstaunlichen Zahlen auf, behauptet sie doch, dass etwa fünf Prozent der Pilger es nicht bei spiritueller Suche belassen, sondern weltlichen Verlockungen durchaus zusprechen, wenn nicht gar gezielt suchen. Es sollen zum Neujahrsfest sogar Professionelle aus Kiew anreisen, um der sprunghaft ansteigenden Nachfrage vor Ort überhaupt gerecht werden zu können. Die Zahl der Pilger wird für das Jahr 2015 mit 30.000 angegeben, wenn also fünf Prozent davon mit der Dämmerung auf Abwegen unterwegs sein sollten, dann reden wir immerhin von 1500 orthodoxen Juden, die sich in den Straßen Umans verlustieren. „Was in Uman geschieht, das bleibt auch in Uman“, so lautet das Motto, mit dem man sich vermutlich gegenseitig Mut macht und Solidarität verspricht.

Damit nicht genug: Jahr für Jahr geht zudem der eine oder andere Pilger in Uman verloren, kehrt einfach nicht wieder zurück, sondern bezieht eine Wohnstatt in unmittelbarer Nachbarschaft zu den sterblichen Überresten seines Religionsoberhaupts, um so den Kontakt zum irdischen Glück nicht abreißen zu lassen. Es sei gar nicht so einfach, einen in der Ukraine verloren gegangen Familienvater ausfindig zu machen und einer Unterhaltsklage zu unterziehen…

Aber wie zum Teufel taucht man dort unter, wo Jahr für Jahr 30.000 Glaubensbrüder eintrudeln? Ich habe die Vermutung, dass es genau jene untergetauchten Juden sind, die für all die Läden, Hotels und Restaurants in der Pushinka-Straße verantwortlich sind, sich vorsichtig mit einem dicken, schwarzen Mercedes über unbefestigte Wege vortasten, die Baustellen überwachen und nur noch die Kippa tragen, sich rasiert, die Locken und die schwarzen Bekleidungsstücke abgelegt haben. Vielleicht aber täusche ich mich und es handelt sich dabei um die ganz normale Geschäftstätigkeit ganz normaler israelischer Geschäftsleute, die ihren strenggläubigen Landsmännern die nötige Infrastruktur für den jährlichen Abenteuerausflug gegen Bares zur Verfügung stellen.

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