Lolas Ameríka (#4)

Wenn ich schreibe, ich würde schon seit fünf Jahren im alten Haus wohnen, dann ist das zwar nicht falsch, lässt aber falsche Schlüsse zu. Erstens war ich in den letzten Jahren nie durchgängig dort, habe jeweils mehrere Monate am Stück woanders verbracht. Und zweitens war das mit dem Haus nicht einfach so, das geschah nicht von heute auf morgen. Oder etwa doch?

Zu meinem Haus kam ich durch die Bekanntschaft mit einer alten Dame, Zonje Theodora, von der ich erst Monate später erfahren würde, dass sie die formale Ansprache so gar nicht schätzte, sondern Lola genannt werden wollte. Lola las mich schon während einer meiner ersten Ausflüge ins untere Dorf auf, begann ein beschwingtes Gespräch und nahm keinerlei Rücksicht auf die Sprachbarriere. Heute weiß ich, dass sie das häufig machte: sich Fremden auf dem Pflaster in den Weg und diese zur Rede stellen.

Jedenfalls wollte Lola mit mir unbedingt weiter hinunter im alten Dorf, vom Haus ihres Vaters war die Rede. Soviel hatte ich verstanden und mir den Rest zusammengereimt, so wie man sich im Ausland immer Reime macht auf rätselhaftes Geschehen: Ich hatte gedacht, Lola wolle sich meine Begleitung zunutze machen, um ihren Radius auszuweiten und nach dem Haus sehen. Der Weg ist nicht weit, aber steil und anstrengend.

Weit gefehlt. Als wir uns anderntags trafen, um hinunter zu gehen, meisterte Lola die Stiegen so flink wie jeder andere auch. Wenn sie Pause machte, dann um etwas zu erläutern, auf eines der verschlossenen Tore zu deuten und „Ameríka!“ zu rufen. Sie hielt dafür kurz inne, so als müsse sie überlegen oder jemandem nachsinnen, wendete dann den Kopf, hob den Stock und deutete auf das entsprechende Haus hinter den Mauern: „Ameríka!“

Die Stimme hob sie dafür ebenfalls, so wie es hier unter den alten Frauen üblich ist, und betonte jede einzelne der ersten drei Silben – nie weiß man genau, ob die hohe Tonlage einen Fluch, einen Vorwurf, die Erregung oder die allgemeine Bedeutung des Gesagten signalisieren soll. Wahrscheinlich wird dieser Tonfall demnächst aussterben, genauso wie die Gewohnheit, sich im Alter schwarz zu kleiden.

Erst beim dritten oder vierten Haus begann ich zu verstehen, was Lola meinte: Die Hausbesitzer waren sämtlich in den USA, kamen, wenn überhaupt, nur im Sommer auf ein paar Wochen. Sie waren vor Jahren oder Jahrzehnten ausgewandert, manche schickten Geld und renovierten das alte Haus, andere hatten dem Dorf vollständig den Rücken gekehrt. Die Häuser waren unbewohnt, die Läden geschlossen und die Metalltore auch dort mit einem Vorhängeschloss gesichert, wo schon längst der Verfall nagte und das Efeu wucherte. In die USA auszuwandern war Tradition im Dorf und zwar schon seit Jahrhunderten: Zahlreiche Männer heirateten, zeugten schnell noch ein Kind, um sich dann einzuschiffen und auf Jahrzehnte wegzubleiben.

Auch Lolas eigener Vater war einst dorthin emigriert, sie selbst besaß einen amerikanischen Pass. Lola war selbst nur über den Sommer in Lukova, wohnte im Winter bei einer ihrer vier Töchter in Athen oder in Tirana – die anderen beiden wohnen in Cleveland, Ohio, das ist zu weit weg. Sie liebte, wie sie es formulierte, das Aroma Lukovas und konnte sich für den Sommer keinen anderen Ort vorstellen als ihr kleines Haus und die Terrasse mit dem Blick nach Korfu.

Lola fischte den Schlüssel für das Vorhängeschloss aus einer verborgenen Rocktasche, reichte ihn mir und hieß mich öffnen. Eines der Scharniere des Metalltores war durchgerostet, aber es ließ sich bewegen, der Rahmen kratzte über den Boden. Wir standen drinnen auf einer betonierten Fläche von wenigen Quadratmetern, direkt dahinter lagen die drei Terrassen des kleinen Gartens: Orangenbäume, zwei Wollmispeln, ein Zitronenbaum, ferner eine Maulbeere hinter dem Haus und ein Olivenbaum, weiter unten an der Grenze des Grundstücks eine Walnuss und weitere Zitrusbäumchen – das alles aber verwachsen und verwildert. Der Blick fiel über die Bucht von Borsh nach Norden, nach Porto Palermo und auf den mächtigen Mali i Cikes dahinter.

Die Natur hatte den Garten überwuchert, der Hang war ein einziger Dschungel aus Gras und Gestrüpp, darüber waren scheinbar wild und ebenfalls wuchernd Drähte in alle Richtungen gespannt. Die Drähte waren Flickwerk, das Netz war aus dem entstanden, dessen man habhaft werden konnte. Es hatte einst als Pergola für den Wein gedient, nur die Rebe war tot und die Drähte hingen nutzlos durch – bücken musste man sich, ja kriechen, um überhaupt vorwärts zu kommen. Auch die kleine Terrasse beziehungsweise der Vorplatz des Hauses war mit durchhängendem Drahtwerk überspannt, dort aber lebte der Rebstock noch und würde bald ein dichtes Laubdach bilden.

Die Fensterläden waren völlig morsch, man konnte mit den Fingern hineinbohren. Wir gingen hinein. Von innen waren die Fenster mit dünnen Metallplatten verblendet worden, die das Sonnenlicht bis auf wenige, laserscharfe Strahlen draußen hielten. Der Boden im ersten Stockwerk schwankte bedrohlich, links und rechts des offenen Kamins stapelte sich Mobiliar aus kommunistischer Zeit.

Das Haus war irgendwann in den neunziger Jahren verlassen worden und seitdem unbewohnt. Es hatte sich seit kommunistischer Zeit nicht verändert, es war ein Museum, Zeit war darin konserviert. Lola deutete mit dem Stock auf ein altersschwaches Bett in der Ecke und meinte, es sei alles da: Ob ich mich nicht des Hauses annehmen wolle, fragte Lola, das wäre doch viel besser als oben im Dorf Geld auszugeben, nur um irgendwo schlafen zu können?

 

 

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