Gegenüber und einander: Fluss im Radialsystem
geschrieben zusammen mit Florence Freitag
Der erste Januar war ein Tag, an dem mich die Gemeinheit der Berliner Häusernummerierungen so sehr auf die falsche Fährte setzte, dass ich an meine frühen Tage im Prenzlauer Berg denken musste. Das liegt nicht nur daran, dass ich spät abends die Gleimstraße falsch herum angehe, weil die Häusernummern gegenläufig sind, rechts steigen sie an, links nehmen sie ab. Die Gleimstraße liegt darüberhinaus ganz nahe meiner ersten Berliner Wohnung, in meinem allerersten Kiez, der mir von 1996 an lange unheimlich blieb. Damals war auch die Zeit, zu der ich alle Naslang ins Theater bin, allein siebenmal den Arturo Ui in Heiner Müllers Inszenierung sehen musste, immer von den billigen Plätzen aus.
Die Stralauer und die Holzmarktstraße haben die unangenehme Eigenschaft, dass deren Hausnummern aufeinander zulaufen und dort, wo sie sich treffen, jeweils mit Ziffern jenseits der 30 ausgestattet sind. So kommt es, dass ein Grüppchen Verlorener im Ziegelbaukomplex der Stralauer 33 das Radialsystem sucht, welches sich jedoch in der Holzmarkt 33 befindet. Wir kommen zu spät, werden hineingeschleust in ein bezaubernd stilles Stück: Das Kollektiv laborgras spielt zum vierten und letzten Mal Silent Confrontation. Zwar hätte ich mir solch einen Auftritt gerne erspart, aber das Glück ist, dass ich deswegen weit oben zu sitzen komme, auf einem billigen Platz, aber den braucht es, um einen Überblick zu genießen über ein Stück, das überblickt werden will. Denn was sich dort unten entspannt und entwickelt ist von ganz eigener Magie. Es ist ein beachtliches Auditorium, viel größer, viel weiter gespannt, als ich es gedacht hätte.
Das Thema ist, grob gesagt, die Renaissance, sind die Bilder und Tableaus von Caravaggio, von Cranach und Dürer. Damit war ich ja unlängst in Bologna beschäftigt und ich wiederhole: Die Renaissance ist der Geburtskanal der Aufklärung, der Weg in die europäische Moderne hin zum europäischen Verständnis von Individualität. Die Starre – oder nennen wir es ruhig Posen: die Posen also der Rennaissancemalerei (ein Selfie, egal aus welcher Zeit, zeigt wie wir uns sehen möchten, nicht aber, wie und was wir sind) werden übersetzt in Bewegung, in Tanz, in Leben, in Verwicklung und Entwicklung. Es ist eine Art umgekehrtes Origami: Das ungemein kunstvoll oder auch gekünstelt Verpackte wird Schritt für Schritt entfaltet, seine Bestandteile erforscht und ausprobiert. Die Musik ist nicht Untermalung, die Musik stiftet die Tänzer an, sie wird ausgelotet, in Gefühle übersetzt und durch Bewegung kommentiert, ergänzt.
Es ist ein ungemeiner Spaß, ein seelisches Vergnügen, dem Wollknäuel auf der Bühne zuzusehen, wie es sich ausgeht, zusammenfügt, entspannt, verändert. Formationen scheinen sich zu finden, lösen sich aber in Sekundenschnelle wieder auf, erfinden sich neu und fließen wieder davon. Die Struktur, die Hierarchie, die man automatisch sucht, es gibt sie nicht im Tanzkontinuum von laborgras. Was für eine wohlige Enttäuschung. Absolut bemerkenswert dabei: die Harmonie. Auch in der Konfrontation. Auch im angedeuteten oder ausgeführten Konflikt, in der Flucht eines Einzelnen vor den Anderen, im vereinzelt Dastehen. Bei aller Komplexität, stets sind alle eins: das Kollektiv. Der Einzelne ist abhängig, unabhängig, frei und gebunden, alleine ist er nie und alleine gäbe es ihn auch nicht.
Einer tanzt immer aus der Reihe, entfernt sich, kehrt wieder, reiht sich wieder ein, schlüpft zurück in das Kollektiv. Ich würde dieses Stück gerne siebenmal sehen, jedes Mal – wie beim Arturo Ui von Müller – den Fokus anders legen. Minutenlang folgt mein Blick der Renate, sie kommt mir vor wie ein Pierrot, der die Scherze sein lässt und sich dem Wesentlichen zugewendet hat, dem Spiel, der Bewegung, der Leichtigkeit und dem Flug – ein Pierrot, der es nicht lassen kann, doch immer wieder am Tragikomischen vorbeizustreifen. Dann bleibe ich bei Mariagiulia hängen, sie ist Miss 1000 Volt, ein Ausbund an Kraft: die Sonne, der Vulkan. Rosalind fließt über wie der volle Mond, wie ein Meer. ….gerne würde ich dieses Stück sieben Mal sehen, allein es geht nicht, denn diese vier Aufführungen waren es. Eine Fortsetzung wird nicht finanziert, Grüße an den Senat. Und an den Flughafen, den neuen, der übrigens eine Busanbindung hat, die auch bedient wird. Die BVG hält sich an Verträge.
„Stilles Stück“ ist natürlich gänzlich unwahr, denn es wird ja mit Renaissancemusik gespielt. Ein Cembalo, ein elektronischer Kontrabass, die Stimme hinter dem Vorhang, der Sänger ist nur zu ahnen, er klingt nach dem jungen Leonard Cohen. Das Stück wirkt nur so still und märchenhaft, weil kein Wort fällt und das Publikum mir ganz andächtig erscheint. Kaum einer hustet und es sind zahlreiche Kinder unter den Zuschauern, von denen keines während der guten Stunde der Aufführung einen Mucks macht. Ich finde das ganz großartig, niemand würde Kinder mitnehmen in die Volksbühne, aber hier, hier dürfen sie sein und staunen wie die Erwachsenen auch.
„Dance is a state of problemsolving“, das hat Renate Graziadei mal in den Raum geworfen und es blieb bei mir hängen, jetzt wird es mir sichtbar. Dass dieses Stück so berührt, das liegt vielleicht daran, dass hier nichts Geringeres mit den Mitteln der Kunst erscheint als das Menschsein, das Leben, die Verbundenheit, das gleich berechtigt neben und miteinander sein, das Fließen. Denn alles und jeder ist hier gleichberechtigt, die Musik und der Tanz, die Musiker und die Tänzer, die Tänzer untereinander. Und alles ist verbunden.
Renate hat noch ein paar Tage vor der Premiere dafür gesorgt, dass ich komme, hat mich gefragt, wie es denn stünde. Ich so: keine Zeit, selber grad den Arsch voll Arbeit und Veranstaltungen!
– Aber wir machen doch vier Vorstellungen, die letzte am ersten Januar! Ob ich denn wirklich an allen vier Tagen beschäftig sei? Oh nein, das bin ich nicht.
Florence, welche die Dokumentation macht, ist die erste, die ich im Anschluss an die Aufführung sehe, als ich noch Tränen in den Augen habe. Der Fotograf Phil Dera ist da, führt mich durch die Fotoausstellung.
Miss 1000 Volt, Mariagiulia, posiert vor ihrem eigenen Foto: Die linke Hand ist Dürer, die Rechte Jesus, wenig später ein Flens. Arthur Stäldi, der Dramaturg, sagt, er hätte sich gefreut mich zu sehen, als ich zu spät und nicht gänzlich geräuschlos die Galerie erklommen habe wie einen albanischen Berg – weil ich ja doch noch gekommen sei: Halleluja Berlin! Meine Stadt. Ich bin wieder da…
…und muss im Anschluss noch in die Gleimstraße, danach über den Gesundbrunnen nach Wittenau, heim zur Dorfkirche und zum Fuchs.