Auf dem Jebel Lkest

Jörg Dauscher Jebel Lkest

Zunächst war ich der Einzige, der Bedenken äußerte angesichts der Wolken am Berg. Ich weiß nicht viel über das Bergsteigen. Aber dass aufbauende, schnell diffundierende, schnell ziehende Wolkenschlieren über dem Grat kein gutes Zeichen sind, soviel weiß ich dann doch. Denn sowas spricht für starken Wind und in solcher Höhe zugleich für Kälte. Beides ist nicht das, was man über 2500 Metern hoch erleben möchte, auch nicht in Afrika, auch nicht im Anti-Atlas.

Kaum sind wir in Tachedirt angekommen, einem an die Felsen geklebten Dorf in 1400 Metern Höhe, und aus dem Auto ausgestiegen, pfeift uns die eine oder andere Böe um die Ohren und mich überkommen Zweifel: Ob wir nicht angesichts des Windes einen anderen Ort zum Aufstieg wählen sollten, einen geschützteren? Oder vielleicht einfach nicht zum Gipfel gehen? Das sehe doch aus wie eine tempête, die sich da zusammenbraue!

Der Fahrer, der auch den Bergführer organisiert hat und am Gesamtdeal entsprechend beteiligt ist, legt die Entscheidung in meine Hände: Der Wind sei zwar beaucoup, aber pas grave, ich müsse entscheiden, ich hätte das Sagen und müsse wissen was ich wolle. Natürlich will ich auf den Jebel Lkest, klar, und als der Bergführer eintrifft bin auch ich ersteinmal beruhigt, denn es handelt sich um einen Ziegenhirten aus Tachedirt, der das Gelände und die Bedingungen von Kindheit an kennt. Hamid heißt er und Hamid zerstreut meine Bedenken, indem er mir sagt, wir wären nur ein kurzes Stück dem Wind ausgesetzt, könnten weiter oben im Windschatten queren und so auf den Gipfel kommen. Wohl an denn, Insha`Allah! Auf geht’s!

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Der Wind war anfangs unangenehm gewesen, dann aber wurde es fast windstill und der weitere Aufstieg blieb ohne Probleme, technisch gesehen ohne jede Schwierigkeit. Auch weit oben im Berg waren noch terrassierte Mandelbaum-Anlagen, Feigenbäume und durch Steinmauern begrenzte Felder auszumachen. Und Hamid bestätigte, dass hier sogar Gerste angebaut worden war. Noch vor einigen Jahren wären die Ziegen zu Hunderten umhergesprungen, aber diese Zeiten seien vorbei, es gäbe jetzt nur noch eine Ziegenherde im Dorf. Die Leute seien weg, nach Casablanca-Agadir-la-France, kaum jemand hätte bleiben wollen. Das Dorf bestünde aus den Alten, aus zwei, drei Familien, die geblieben seien und einer Handvoll Bauern, die von Tachedirt aus ihre Felder und Anlagen bewirtschafteten, aber die Familien im Tal hätten. Kein Vergleich zu dem Leben in den siebziger und achtziger Jahren. Einige hätten durchaus Erfolg in Casablanca-Agadir-la-France und würden daher und damit es jeder sehen könne ihren Familienstammsitz im Dorf entsprechend herrichten – je schöner das Haus um so seltener sei es bewohnt.

Ich glaube, wir haben noch gar nicht wirklich begriffen, welche Zerstörungskraft der funktionierende Kapitalismus und die Käuflichkeit alles Lebensnotwendigen über längere Zeiträume hinweg entwickeln: Ganze Daseinsformen verschwinden innerhalb von ein bis zwei Generationen, Kulturlandschaften verwüsten, Wissen, Tradition und Handwerk gehen in den Banlieus von Casablanca und Marseille unwiderruflich verloren. Weil sie ohne Nutzen sind. Weil das tägliche Brot nicht erst gemacht werden muss, weil es schon da ist und erworben werden kann.

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Erst am letzten Anstieg zum Sattel hinauf kamen wir wieder in den Wind, der dann so heftig über den Kamm fegte, dass ich nur einen kurzen Blick hinüber werfen konnte, um irgendwo in der Ferne die Kashba von Tizourgane auszumachen. Schnell stiegen wir wieder ein paar Meter ab, um zwischen Felsblöcken geschützt ein pique-nique einzulegen. Und um uns angesichts des wütender werdenden Windes zügig an den Abstieg zu machen.

Ich denke drüber nach, ob es den Böen möglich ist, Steine aus den Steilhängen zu lösen. Und ich bereue es, nicht die lange Unterwäsche angezogen, nicht die Windjacke mitgenommen zu haben.

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Wir mussten uns während der Böen gegenseitig stabilisieren, an den Ärmeln packen und die Beine in den Hang stemmen, sonst hätte es uns umgerissen. Fast schon lustig ist, dass ich mich mit Hamid darüber verständigen wollte, womit wir es zu tun hätten. Als ob es hilfreich gewesen wäre zu wissen, ob es sich um eine tempête handelte, ob der Sturm exceptionelle sei und auch für ihn feroce ?

C´est beaucoup, c´est beaucoup! blieb Hamids einzige Antwort, bevor er sich umdrehte, weiter voran schritt und damit begann, in den Wind zu sprechen. Mir wurde klar, dass Hamid begonnen hatte, mit seinem Gott zu sprechen, dieses wesenlose Prinzip anzurufen, um klar zu machen, dass er sich und den Ausländer heil vom Berg brächte. Ich gebe gerne zu, dass die Situation äußerst unangenehm war, zumal der Sturm nicht nur an einem zerrte, sondern anfing, uns überdies langsam auszukühlen. Wirklich gefährlich aber waren nur die zeitweisen starken Böen, während derer wir uns in Deckung begeben oder aneinander klammern mussten. Hamid trug im Gegensatz zu mir keine kompakten, griffigen Bergstiefel, sondern einfache, durchgelaufene Berber-Babuschen.

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Die Konzentration gilt dem nächsten Schritt, das Blickfeld hat sich verengt, Berg und Landschaft sind nicht mehr, nur noch der Pfad ist wichtig. Der Wind ist ein Tosen und Zerren und Stoßen. Pausen sind keine möglich, wir steigen wesentlich schneller ab als vorhergesehen, um Sturm und Gefahrenzone hinter uns zu lassen. Und als dies geschehen ist, um möglichst schnell ins Dorf und in den Genuss heißen Tees zu kommen. Hamid lädt mich zu sich ein, wir wärmen uns auf und ich warte auf den Fahrer, der mich ins Tal zurückbringt. Hamid gibt sich erleichtert: C´était beaucoup, là-haut, beaucoup!

Als die Nacht hereinbrach erreichte der Sturm auch das Tal und meine Unterkunft, der Strom fiel aus, Palmen bogen sich, Zäune brachen zusammen, Plastiktische wurden weggefegt. Am folgenden Tag ist dann auch durchgängig von einer tempête die Rede – sehr zu meiner Genugtuung, Hauptsache die Begriffe haben sich geklärt.

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