Überfahrt und Entropie
Ich geh die Sache einfach an wie der große David Foster Wallace, ich lasse Beschreibung und Bewertung fahren und zähle einfach nur auf. Die Baltic Princess hat zehn Decks: zwei Pubs und eine Piano Bar auf Deck 7, eine Karaoke Bar auf Deck 6, eine Disco sowie den Starlight Palace auf Deck 6 und 7, in dessen Zentrum eine Las-Vegas-artige Bühne steht, getaucht in lila Licht. Vier Restaurants, darunter das mondäne Happy Lobster, befinden sich auf Ebene 7, die Cafeteria eine Etage darunter. Dorthin habe ich mich zurückgezogen, denn dort lässt man mich in Ruhe. Ich bin nett, also ist man nett zu mir und ich darf am einzigen Tisch mit Steckdose sitzen und muss außer einem Kaffee noch nicht einmal etwas bestellen.
Die Schäreninseln und Inselchen liegen hinter uns, der Mariehamn-Archipel vor uns und dahinter schon die finnischen Inseln und Inselchen. Auf Deck 2 soll es ein Sauna Department geben, aber ich bin Deckpassagier und schleppe mein Gepäck mit. „Deckpassage“, das bedeutet vor allem, keinen Fluchtort mehr zu haben, keine Ruhekabine, sondern stattdessen der menschlichen Komödie auf relativ engem Raum und allen denkbaren Ablenkungen ausgesetzt zu sein. Es gibt kaum Auslauf nach draußen, so eine skandinavische Fähre ist ein geschlossenes System, es droht Entropie. Nur auf Deck 10 gibt es eine Plattform an der frischen Luft, die allerdings den Rauchern zugeeignet ist. Drinnen in der Bar ist ein Gitarrenspieler beschäftigt, der, obschon er nur mit begrenzten Mitteln Klassiker um Klassiker anstimmt, auch nach draußen übertragen wird. An allen möglichen Stellen befinden sich obskure Spielautomaten, es gibt eine Fashion Street, einen Duty Free sowieso, einen Tabak- sowie einen Schmuckladen und gewiss vieles mehr, was ich noch gar nicht entdeckt habe. Im Bauch des Schiffs reisen die Autos mit, auf Deck 5 erstreckt sich ein Konferenzzentrum. Die Baltic Princess hat 927 Kabinen, was einer Kapazität von 2800 Passagiere entspricht, von denen aber höchstens die Hälfte an Bord ist. Das ist nun gar nicht so groß, aber doch viel größer, als ich es erwartet hatte.
Ich habe noch viel Zeit, um sieben sind wir in See gestochen, eine Ewigkeit lang an den Schäreninseln vorbeigezogen, jetzt ist es zwölf und Turku werden wir erst abends erreicht haben. Schon jetzt aber bin ich gesättigt von dem Chrom, den unmöglichen Teppichböden, den ästethischen Verbrechen. Alles, was die Welt unangenehm macht, schlechtes Essen, grelle Farben, ständige Beschallung, billige Zerstreuung, ist hier auf engstem Raum versammelt. Der Gegensatz zu den sporadischen Häusschen, den Stegen und den Segelbooten da draußen könnte nicht größer sein. Draußen auf den Inseln, dort liegt das Paradies, hier drinnen herrscht ein Feng-Shui-Inferno. David Foster Wallace hat ziemlich lange durchgehalten mit dem Protokollieren seiner Karibikkreuzfahrt, am Ende aber hat er aufgegeben, einen gesamten Tag lang depressiv in seiner Kabine verbracht, ohne Notiz zu nehmen von der grellen, ruhepunktlosen, ihn radikal umgrenzenden Wirklichkeit. Kann ich gut verstehen – und das hier ist ja nur eine Überfahrt, keine Kreuzfahrt.
Ps.: Wir fahren in den Archipel von Turku ein und die Schwedin Johanna klärt mich auf: Ich bin wirklich auf einem Fun-Cruise, nicht auf einer profanen Fähre. Der Zweck der Fahrt besteht aus billigem Alkohol, günstigem Essen und den Unterhaltungsangeboten. Der größere Teil der Passagiere ist nicht an Bord, um von A nach B zu kommen, sondern um von A nach B zu fahren und dann nach A zurück. Das erklärt einiges. Ich nehme Teil an einer Minikreuzfahrt, einer finnischen Butterfahrt durch internationale Gewässer. Willkommen in Finnland.