Kleiner Grenzverkehr die Zweite

Normalerweise stelle ich mich gerne an den „All Passports“-Schaltern an, diesmal aber bin ich froh, an der verkeilten Menge vorbeilaufen und mich in die wesentlich weniger eng stehende EU-Reihe stellen zu dürfen. Es scheint eine mächtige Sonne, wir stehen draußen zwischen Metallgittern und Gattern, warten bis der nächste Schwung in das Gebäude darf und das kann dauern. Die polnischen Behörden sind nicht nur kleinlich, sie sind auch unterbesetzt und sich ihrer Macht nur allzu bewusst. Die Genauigkeit gilt dem Gepäck von Fußgängern, den Handtaschen und Koffern von all jenen, die nicht mit der Bahn oder dem Bus (oder dem Benz bzw. dem Privatflugzeug) die Grenze überqueren, sondern per Pedes. 40 Zigaretten dürfen eingeführt werden sowie 0,5 Liter Spiritus und 3 Liter Bier.

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Ich mache mich sofort verdächtig, weil ich statt der Höchstmenge an Zigaretten nur eine angebrochene Packung in der Hosentasche habe, aber behaupte, dies sei alles. Zigaretten, selbst Markenware, kosten in der Ukraine etwa achtzig Cent die Packung. So doof kann also niemand sein, es sei denn, er hat irgendwo eine Stange versteckt und will schmuggeln.
– Ob ich Alkohol dabei hätte?
– Nur im Blut.
– Kein Wodka?
– Nö, nur ein bisschen Bier.
– Wieviel genau?
– Eines Mittags in Lviv, eines grad noch auf der ukrainischen Seite.
– Rucksack aufmachen!
Ich hasse Rucksack aufmachen, die schöne Ordnung, das sorgsam gepackte Kunstwerk! Während ich den Rucksack öffne, will die Dame vom Zoll unvermittelt wissen, was ich beruflich so mache – eine Frage, die mir sonst nur in autokratischen Staaten wie Marokko oder der Türkei begegnet ist. Weil die Dame gerade mein Zelt und meinen Schlafsack anhebt, höre ich mich sagen, ich sei Handelsvertreter für Campingausstattung, Ukraine wäre the next big thing. Das war frech genug, ich kann es aber nicht lassen, noch dazu höflich die Gegenfrage zu stellen:
– So, and what do you do?
Bestraft werde ich mit Komplettinspektion. Ich besitze eine Kompressionstasche für Klamotten, welche zwei umlaufende Reißverschlüsse hat, einer ist der eigentliche Verschluss, der zweite dient lediglich dazu, das Volumen auf ein Minimum zu komprimieren. Jetzt wird es richtig lustig, denn sie verlangt von mir, beide zu öffnen, was mir wiederum Gelegenheit gibt, in der Rolle zu bleiben und das Produkt ausführlich zu erklären.

Grenze Polen Ukraine

Last Exit Krakowec : die ukrainische Marshrutkastation vor der polnischen Grenze

Das wahre Ausmaß des Elends aber ist erst auf der polnischen Seite zu besichtigen. Das Elend bestand nicht in der dicht an dicht in der Sonne stehenden ukrainischen Masse vor dem Abfertigungsgebäude, welche in der Tat wie Vieh nach vorne gestürmt war, als das Metallgatter sich endlich öffnete, sich ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht durchgeboxt hatte, nur um ein paar Meter zu gewinnen. Das wahre Elend besteht darin, dass ich eine der Großmütter, die ich beobachtet hatte, auf der anderen Seite wiedersehe, mitsamt der 0,5L Flasche Wodka und den vierzig Zigaretten, die sie dort verkaufen will. Sie hat diesen Gang also nur gemacht, um mit dem dürftigen Profit später zurückzukehren, und versucht nun im Licht des fortschreitenden Nachmittags, ihre drei Waren an den Mann zu bringen. Verkauft wird hinter der Grenze nicht unbedingt an Polen, denn dort warten kaum Abnehmer, verkauft wird an andere Ukraine-Rückkehrer, die ja ihrerseits maximal vierzig Zigaretten und 0,5L Wodka dabeihaben und diesen Vorrat gewiss noch aufstocken wollen. Jeder der Interesse zeigt, findet sich sofort von fünf oder sechs Frauen umringt (die Männer sind in der Minderheit und gehen langsamer zu Werke), welche angesichts des fortschreitenden Tages sichtbar Sorge haben, ihre drei Waren noch loszuschlagen.

Lemberg Lviv Babushka Militärpolizei

Babushka-Raid in Lviv: Die Damen werden vertrieben, frisches Gemüse und Kräuter sind in den Städten illegal

Ich habe kein Interesse, arbeite mich durch zum Bus, entsinne mich aber dort meiner drei verbliebenen, jedoch nutzlos gewordenen ukrainischen Geldscheine, kehre um und drücke sie jener alten Dame in die Hand, die mich Minuten zuvor als erste angesprochen hatte. Ihre Hand bleibt offen, das Gesicht verärgert, denn der Betrag reicht nicht hin für eine Packung Zigaretten. Was also würde ich wollen?! Ich signalisiere, dass ich die drei kleinen Scheine nicht mehr bräuchte, ich ginge jetzt ja nach Polen. Wie sich daraufhin ihre Züge lösen, kurz Freude aufscheint ob des unverhofften Zugewinns, gänzlich ohne Materialeinsatz, wie sich dann die kleine Faust schließt, geschwind die Scheine ebenso wegsteckt wie das Lächeln, auf dass niemand das Geschehen außerhalb des normalen Geschehens mitbekäme, das ist das wahre Elend.

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