Man muss nicht bis zum Annapurna

Blick über Rugova

Es war ein warmer, windstiller Tag voller Sonne. Ich hatte eine kleine Plastikflasche mit schwarzem Tee, Zucker und Zitrone gefüllt, dieser zwei Strümpfe übergezogen, das Messer angelegt, sicher war sicher, die wollene, traditionelle Unterwäsche angezogen, die Adidas-Jacke und diese unfassbar dämlichen Jogginghosen, an denen bei der ersten Gelegenheit der Schnee kleben und bei der nächsten die Feuchtigkeit eindringen würde.

Noch auf dem ersten flachen Abschnitt vor der Hütte kamen mir Zweifel, denn dort hatte der Wind allen Schnee versammelt, dessen er habhaft werden konnte, und das Fortkommen war mühsam. Sobald der Anstieg jedoch steiler wurde und man sich seine Linie über ermattetes Gras und niedrigwachsende Latschen suchen konnte, ging es erheblich leichter und ich kam gut voran, so gut, dass ich bald über den Punkt hinausstieg, wo ich zwei Wochen zuvor noch umgekehrt war. Dann wurden auf einmal die weiß-roten Wegmarkierungen an den Felsen sichtbar, was mir ein gutes Gefühl gab und mich weiter ziehen lies: Ich beschloss, bis zum Grat zu gehen, um wenigstens einen Blick hinüber zu werfen.

Erst im letzten Stück, auf vielleicht 300 Metern wurde der Schnee wieder zum Problem und ich erheblich langsamer. Inzwischen aber waren die Felsen des Grates schon in Sichtweite, der Anstieg flachte ab und mit einer letzten Anstrengung war der Grat auch schon erreicht.

Ich ging die letzten Schritte durch tieferen Schnee, der sich im Windschatten der Felsen hatte ansammeln und halten können, dann, durch eine Lücke in den überschneiten Felsen, öffnete sich der Blick nach Montenegro. Unwillkürlich wich ich zurück und hielt den Atem an: Der vereiste Fels fiel fast senkrecht ab, weit weit hinunter. Man stand auf dem Eis, zur einen Seite die hinabstürzende Felswand, zur anderen die steile Südflanke, zur Rechten der Grat, zur Linken die Wellenlinie der Vorgipfel und der Anstieg zum Gipfelmassiv. Dieses fiel in einer vereisten Wand schroff ab.

Die Knie waren mir weich geworden, hätte es Wind gegeben, ich hätte es gut sein lassen und wäre nicht weiter. So aber sammelte ich mich, sagte mir „Ruhig Blut, es ist nur der Kopf, für die Füße kein Problem.“ und arbeitete mich ein wenig unterhalb der vereisten Kuppen den Grat entlang, dort, wo ich den in über Felsen mäandernden Pfad vermutete. Wegmarken waren kaum noch zu sehen, aber es gab ohnehin nur eine Richtung und in dieser kaum Optionen.

Die Hajla war ein einziger Grat, eine sichelförmige Abfolge eisüberzogener Abgründe – ohne jedes auch nur einen Quadratmeter großes Flachstück. Es schien, das Eis und die Schneeplatten wüchsen von Montenegro herüber, der langgestreckte Grat ragte in dunkles, scheinendes Blau. Es war phänomenal und mehr als einmal suchte die rechte Hand Halt, versicherte sich anhand eines Felsen der weiterhin wirksamen Gravität, den Anflug von Schwäche versuchte ich durch Konzentration wettzumachen.

Eine gute halbe Stunde muss ich mich so vorgearbeitet haben, in Richtung Westgipfel. Ich wusste, dass wenn ich den Gipfel überschreiten würde, ich einigermaßen mühelos in einem Bogen nach unten gehen konnte. Zurückzugehen war keine Option mehr, nur im Notfall. An einer mit Eis und einer Schicht Pulverschnee überzogenen Nase, rechterhand ging es in einem V-Ausschnitt senkrecht hinunter, links lagen die überschneiten Felsformationen des Gipfelkamms, weigerte ich mich weiterzusteigen – die Vorstellung, der Schnee könnte nachgeben und ich ins Schlittern kommen, wurde zu stark. Stattdessen klettere ich nach unten, um mich auf dem Hosenboden zwischen Felsen hinunterzulassen und entlang einer quer aufsteigenden Rippe sowie durch Schneefelder steil abzusteigen.

Wochen später erzählte mir Fatos, dass ein Freund von ihm, Çako, dort oben ums Leben gekommen war, auf Eis einen falschen Schritt getan hatte, ins Straucheln gekommen und über die Kante abgestürzt war. Çako, der am Hajla jahrelang für den Himalaya trainiert hatte, der schließlich dort auf Achttausender gestiegen war. Jahrzehnte sei das her und die Hajla habe noch in Jugoslawien gestanden. Fatos meinte:

– Man muss nicht bis zum Annapurna, um umzukommen.

Es bräuchte nur ein bisschen Nebel, kaum noch Sicht – und schwupps, sei man ein paar hundert Meter von der Hütte dennoch verloren, es sei denn, man würde jeden Baum kennen. Çako hatte weiter unterhalb von Fatos Blockhütte eine eigenen Unterschlupf besessen, mehr ein Verschlag als eine Hütte, und hatte ganze Winter an der Hajla verbracht, um zu trainieren. Zweimal war er halberfroren von Dörflern aufgelesen worden, einfach weil er durch Schlechtwetter entkräftet irgendwo herumgestiegen und schließlich nicht mehr weiter gekommen war.

Es kann schnell gehen in den Bergen und Höhe ist nicht die ausschlaggebende Größe. Dies ist ein Grund, warum ich eine Abneigung entwickelt habe, gegen Tourenplanungen und eng gesteckte Terminpläne: Es ergibt keinen Sinn, vorab zu bestimmen, wann man wo ist und den Tag für den Gipfelgang vorab festzulegen. Man muss abwarten, wann und ob dieser Tag kommt, den Berg und das Wetter entschieden lassen. Mir geht es wie Fatos, ich bin kein Gipfelmensch, ich muss nicht auf Teufel komm rauf bis auf den höchsten Punkt, um anschließend zu erzählen, ich sei am höchsten Punkt gewesen. Die Berge sind mir vielmehr ein Raum, durch den ich mich gerne bewege, in dem ich mich gerne aufhalte, Saumpfade und Pässe sind mein eigentliches Habitat. Fatos hatte gesagt:

– Was will ich am Gipfel? Wartet dort etwa meine Mutter?

Im Zickzack stieg ich zügig durch die steilen Schneefelder, suchte mir eine Linie, auf der ich glaubte, nicht allzu tief einzubrechen, und hatte bald die ersten vereinzelten Tannen erreicht, die in so regelmäßigem Abstand in die Flanke gepflanzt waren, als wäre es Absicht. Ich stellte fest, dass ich mein Messer verloren hatte, es musste sich aus dem Holster gelöst haben, als ich durch den Schnee rutschend von der Nase hinuntergestiegen war. Zurück in der Hütte fand ich noch Glut vor und schürte an.

Ich war lediglich gute drei Stunden unterwegs gewesen, dreieinhalb vielleicht, ganz genau wusste ich es nicht. Aber ich wusste jetzt, mit wem ich es zu tun hatte, wer Hajla war: Ein wenige Schritt breiter, scharf geschnittener, fast ein wenig unheimlicher Grat, dessen steiles Süddach im Vergleich zum senkrechten Felssturz auf der Nordseite geradezu sanft war. Zugegeben, es war nicht ohne Risiko gewesen, dort herumzusteigen, ganz alleine.

Aber ich war es gewohnt, alleine zu gehen. So kann ich meinem ganz eignen Rhythmus folgen, Fotos machen und abbrechen oder abzweigen, mich aufhalten, man immer und wo immer ich will. Ich denke, auch dies minimiert Risiken. Nicht ganz unbedenklich jedoch war, dass ich am ganzen Massiv der einzige Mensch weit und breit war und selbst in Pepaj sich höchstwahrscheinlich einfach mal so gar niemand aufhielt.

Jeder Fehltritt, jede Dummheit hätte also Konsequenzen gehabt. Ein Mobilfunkgerät hatte ich nicht nicht einmal mitgenommen, es war mir unnütz erschienen – nicht nur, weil der Akku unter winterlichen Bedingungen innerhalb von Sekunden abschmiert. Sondern auch weil ich nicht vorhatte, jemanden anzurufen und nicht mal Bescheid gegeben hatte, dass ich gehen würde. Wozu auch?

Und selbst wenn, wozu wäre ein Anruf nütze? Kommen könnte eh keiner, eine Bergwacht oder ‚nen Heli gibt es im ganzen Kosovo nicht; wenn, dann wären es die Freunde und die kämen Stunden später: eine für die Anfahrt nach Pepaj, zwei für den Aufstieg zur Hütte, noch weitere für den Berggang und mindestens noch eine weitere, um mich zu finden. Also bitte!

Und überhaupt: Mit einem verstauchtem Knöchel könnte man sich noch zur Hütte zurückschleppen, mit gebrochenem Bein würde man notfalls hinunter kriechen oder kugeln, wenn einem am Leben liegt. Dann könnte man den Notruf von dort aus absetzen, wo man ein Dach über dem Kopf hat. Und bei Schlimmerem muss man gar nicht mehr telefonieren.

– Hey Mentor, wie geht´s?

– …

– Ja, Wetter hervorragend.

– …

– Ne, grad nicht so gut.

-…

– Na, ich stürze gerade nach Montenegro ab. Aussicht blendend, aber könnte jemand kommen zum auffangen?

Was hatte Mentor zum Abschied zwei Wochen zuvor gesagt? Wir würden uns in jedem Fall wiedersehen. Ganz gleich in welchem Zustand. Erst jetzt verstand ich den Witz: spätestens in der Pathologie!

Aber Spaß beiseite: Wenn man solche Dinge unternimmt, dann muss man das Risiko eingehen und die Verantwortung dafür übernehmen. In den Bergen herumzusteigen birgt automatisch Gefahren. Was jeder Bergsteiger macht, ist, das Risiko zu begrenzen. Es gibt sogenannte objektive Risiken, die sich aus Wetterlage, Gelände und natürlichen Gegebenheiten zusammensetzen. Ein prägnantes Beispiel dafür sind die sogenannten Seracs jenseits des Basiscamps am Everest, der Khumbu-Eisfall: Schluchten aus hochhausgroßen Eistürmen, die jederzeit kollabieren können. Jedes Jahr muss die Route dort hindurch deswegen neu angelegt werden, ab Ende Mai ist sie aufgrund von Wärme und Monsun gar nicht passierbar.

Man geht dort früh morgens rein, noch vor Sonnenaufgang, dann sind die Seracs am stabilsten und das Risiko, erschlagen zu werden, geringer – aber nicht ausgeschlossen, absolut nicht. Die Lawine, die 2014 große Teile des Basecamps wegfegte, wurde durch einen kollabierenden Serac ausgelöst. Zwölf Sherpas, die sich zu dieser Zeit im Eisfeld befanden, kamen um. Sie waren gerade dabeigewesen, es war am Anfang der Saison, die Route zu präparieren, also Eisschrauben zu setzen, Seile zu spannen und Aluminiumleitern über die Gletscherspalten zu legen. Dies bringt mich zu den subjektiven Risiken, also jener Gefährdung, die vom eigenen Verhalten abhängt: Von der Erfahrung, der Ausrüstung, der Kondition und so weiter. Von all dem hatten die Sherpas sicherlich mehr als so mancher zahlende Everest-Besteiger, aber aufgrund ihres Jobs dazu gezwungen sich über Gebühr im Eisfall aufzuhalten – auch noch nach Sonnenaufgang, um halb Sieben, als der Serac kollabierte.

Das ist natürlich ein Extrembeispiel, alltäglicher ist falsche oder unvollständige Ausrüstung, Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit, Unterschätzung von Strecke und Schwierigkeit. Ich persönlich glaube, das zudem Kenntnis des Terrains und der richtige Zeitpunkt entscheidende Faktoren sind. Wenn man nicht unter Druck steht, auf den richtigen Tag warten kann und zudem schon am selben Berg unterwegs war, also weiß worauf man sich einlässt, dann hat man sicherlich das seine getan, die Risiken so weit als möglich zu minimieren. Den Rest hat man nicht unter Kontrolle, aber wann hat man das schon?

 

Anmerkung: die Schneefotos sind von einem zweiten Gang auf die Hajla, zwei Wochen später und mit Schneeschuhen.

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