Mazeri: Warten auf Strom
All der Zauber, das Glück, das Gefühl der Verwegenheit stellen sich immer erst nachher ein. Nichts von dem realisiert man, während man geht. Nichts davon ist wahr. Während man geht, geht man. Man denkt darüber nach, wie lange man geht, wie sich das Wetter verhält und ob man diesem oder jenem „Guesthouse“-Schild nachgehen sollte, oder doch noch nicht. Man flucht, weil man nicht besser gepackt hat, keine zweite Flasche Wasser mitgenommen hat oder zu faul war, die Schneegamaschen anzuziehen. Man rutscht aus, weil auf einmal Eis ist, man bricht ein, weil auf einmal der Schnee tief ist. Letztlich entscheiden die Beine und die Umstände darüber, wie weit man geht, wohin und wie lange. Alleine gehen ist zu absolut gleichen Teilen ein Zustand der Ausgeliefertheit und der vollständigen Selbstsicherheit. Und beides ist, während man geht, ein- und dasselbe.
Die ersten Gehöfte waren passiert und die Hunde hatten angeschlagen. Das nächste was passierte war, dass sich mir ein georgischer Schäferhund anschloss, auf meinem Weg in das Dorf Mazeri. Ein Schäferhund, weiß und groß wie ein Kalb, mit coupierten Ohren, so dass die Wölfe es schwerer haben, sich zu verbeißen. Nachdem er kilometerlang mitgelaufen war, versuchte ich meine Mischung aus Walnüssen und Rosinen mit ihm zu teilen, vergeblich. Mochte er nicht, lief trotzdem weiter mit… Womit habe ich das verdient? Nichts habe ich zu geben! Mit einem georgischen Schäferhund bergan zu laufen imprägniert gegen alles. Gegen den Schnee, gegen die Ungewissheit und gegen die anderen Hunde.
Ich gehe über Mazeri hinaus, noch bleibt der Himmel von einem blauen Fleckchen abgesehen zugezogen. Vom Ushba ist nichts zu sehen. Mein Schäferhund ist vor Mazeri zurückgeblieben, hat sich erst zurückfallen lassen, nachdem er lange vorausgelaufen war, und blieb dann schließlich stehen, bevor wir das Dorf erreicht hatten. Ich verstehe: nicht mehr sein Territorium. Hier käme er in Schwierigkeiten. So long, Buddy! Ich verspreche, nächstes Mal eine Dose Hundefutter mitzunehmen, my fault. See you on my way down! Auf die Gefahr hin, dass man mir nicht glaubt, solch ein Abschied ist einer! (Es ist nicht mein erster georgischer Hund, mit dem ich über Stunden gelaufen bin, aber das Wunder wird dadurch nicht kleiner.)
Die Bauern übernehmen. Treten vor das Haus, nachdem deren Hund anschlug und erkundigen sich auf Russisch nach dem wohin und woher. Hinter den Bergen, die vor mir liegen, ist Russland. Seit Tagen ist der Strom ausgefallen. Es ist nicht nur Neugier, die sie vor das Haus treibt. Es ist auch Fürsorge. Wer ist der Idiot, der nach einer Woche Schneefall nach Mazeri geht? Niemand würde sich wundern oder kümmern um einen Jeep oder einen 4WD, aber um mich in der blauen Jacke und mit dem roten Rucksack kümmern sie sich. Einer macht mir, nachdem ich nicht herein kommen wollte, unmissverständlich klar, dass ich zu warten habe, geht ins Haus und kommt mit Tee in einem Pappbecher wieder – weiß Gott, wo er den Becher herhat! Tee, das Getränk der Berge! Wirkt sofort, hilft sofort! („Kaffeegesellschaften“ nennt man in Swanetien abschätzig das Geschehen im fernen Tbilissi.)
Bergan hinter Mazeri steht ein unfertiges Haus auf einer Anhöhe, an der Straße ist ein Schild handgeschrieben „Guesthouse“. Ich gehe durch den meterhohen Schnee bis der Hund anschlägt. Ich rufe:
– Gamardschoba!
Ein Fenster öffnet sich, eine Alte schaut hinaus, ruft den Hund zurück und winkt mich heran. Sie heißt Bela. Bela schafft das, was nur die Alten und die Kinder können, sie unterhält sich mit mir ohne Rücksicht auf die jeweilige Muttersprache und macht mir klar, dass sie auf den Strom wartet und auf ihre beiden Söhne. Bela erzählt mir sogar, dass ihr Mann sie verlassen habe, als die Söhne noch klein waren. Sie macht eine zusammenkauernde Figur, die plötzlich aufsteht und verschwindet. (Später frage ich bei ihrem Sohn, der ein wenig Englisch kann, noch einmal nach und ich hatte richtig verstanden.) Sie sitzt auf ihrem Bett zwischen Fenster und Ofen, greift zum Fernglas und sieht hinaus.
Ich will noch mal weg, im schwindenden Tageslicht sehen, ob sich die Wolken am Ushba verziehen, gebe ihr Bescheid, dass ich eine Runde mache (auf sich zeigen, einen Kreis beschreiben), sie nickt, alles klar. Im Hinausgehen sehe ich das Licht, in dem sie sitzt. Ich sage „Portrait?“. Sie winkt ab, sagt, sie sei doch hässlich! Sie winkt ab, aber sie lächelt dabei. Ich protestiere, sage, sie sei vielleicht alt, aber keineswegs hässlich! Verspreche, ihr das Photo zu zeigen, sobald es gemacht es. Sie willigt ein und streicht sich das Haar zurück, bevor sie die rote Wollmütze wieder aufsetzt.
Ich bin draußen. Oberhalb von Mazeri auf 1700 Metern. Ich gehe über den Fluss. Ich wate durch hüfthohen Schnee. Ich warte auf ein Photo. Ich bilde mir ein, die Wolken müssten sich verziehen. Und die Wolken zerreißen, der Ushba erscheint.
Die falsche Vorstellung, dass der Ushba wüsste, dass ich ihn zum dritten Mal besuche, die kommt mir erst im Tal. Oben am Berg war nur Nässe, Kälte, vergehendes Tageslicht und schwindender Akku und das unglaublich große Glück heißen Tees, als ich zurück war und die Söhne von Bela sich eingefunden hatten und das Feuer im Ofen des einzig beheizten Zimmers fauchte. Der Strom kam nicht. Nur der Ofen und zwei Kerzen brannten. Es war der zweite Weihnachtsfeiertag. Wir saßen am schiefen Tisch, verstanden uns und Belas liebende Augen blitzen durch die Dunkelheit. Die Nacht wurde brutal und kalt und der Gedanke, nach den Sternen zu sehen, blieb ein Gedanke.