Spello, Spoleto und Eufemia: Lost in transitions
Es muss eine Art Notwehrareal im Sprachzentrum geben, das einzig darauf ausgerichtet ist, im Hier und Jetzt zurechtzukommen, sich schnell die wichtigsten Vokabeln aneignet, um die wichtigsten Bedürfnisse zu stillen. Normalerweise funktioniert genau dieses Areal bei mir recht gut, nun aber hat es unter dem Druck der Umstände komplett den Geist aufgegeben. Zwischendrin war ich auf Franzosen getroffen, hatte mich anschließend einiger albanischer Höflichkeiten besonnen, ansonsten Spanisch mit Albanern geredet und Englisch mit Italienern. Jetzt aber ist Schluß, mein Sprachzentrum stürzt immer wieder ab. Noch nicht einmal einen caffè schaffe ich unfallfrei auf Italienisch zu bestellen, zu viele Idiome bäumen sich in meinem Hirn zu einer Welle auf, die dann krachend in sich zusammenbricht und ich stammelnd, unsicher und sprachlos bleibe. Mir scheint, die Synapsen ordnen sich neu, Sprachfamilien entstehen, Anverwandte, Tanten und Cousinen ziehen vorüber, deren Namen man sich nicht ohne Weiteres und nicht sofort merken kann.
Den ersten Zug aus Perugia verpasse ich, weil der Bus nicht abbiegt, sondern stattdessen auf halber Höhe zu einem anderen Bahnhof fährt, dem falschen. Von dort muss ich den halben Weg zurück, um richtig abzubiegen, zur anderen Seite hinunter. Deshalb habe ich Zeit und kehre auf eine Kokosmilch bei französisch sprechenden italienischen Afrikanern ein, die einen Kiosk bewirtschaften, in dem es neben den üblichen Kiosk-Artikeln auch Haarverlängerungen, Yamswurzeln und eben frische Kokosmilch gibt. Den zweiten Zug erwische ich, durch Hügelland geht es, die Höhenzüge des Appenin zur Linken, durch das Tiberbecken gen Süden, durch Umbrien, durch dieses Schattenland (lat. umbra, frz. ombre, span. sombra) – satt und grün und heute noch bewaldet, ein Herzland Italiens insofern, als dass es im Landesinneren liegt, an kein Meer und an kein Ausland grenzt.
Ich kapituliere nicht nur vor den Sprachen, ich kapituliere auch vor den Städten und Städtchen, jede und jedes scheint mir sehenswert. Es ist mir fast egal, wo ich aus dem Zug aussteige, ein Ort eh wie der andere. Ich hatte eine Fahrkarte nach Spoleto gelöst, bin aber in meiner Verwirrung bereits in Spello aufgeschreckt, hielt die Namen für wahlverwandte Synonyme und verließ eilig den Zug. Habe den Irrtum aber noch bemerkt, stand für Sekunden unschlüssig in der Sonne, der Schaffner rief mir zu, ich müsse das Gleis jetzt überqueren, da käme gleich ein Zug aus der Gegenrichtung. Das tat ich nicht, ich stieg wieder ein und gab achselzuckend meinen Irrtum zu. Spello sei bello, Spoletto aber più bello, versicherte mir daraufhin meine Sitznachbarin. Und das, während wir gerade an Trevi vorbeifuhren, welches weithin sichtbar auf seinem eigenen Hügel thront, aussieht wie ein Zuckerhut, exponierter noch als die folgenden kleinen Städte auf Hügeln.
Das Wetter bleibt unbeständig, der Frühling des Jahres 2016 ist ein launischer. Auf Spoletos Fassaden scheint die Sonne während dunkelgraue Wolken aufziehen: ein wunderbarer, ein magischer Kontrast. Durch Gassen, Torbögen, Treppen laufe ich an einer orthodoxen Kirche vorbei, nach oben zum Marktplatz, zum Dom und zur romanischen Kirche Sant’Eufemia. Diese soll noch bedeutender sein als die anderen bedeutenden Baudenkmäler. Da ich aber vor lauter Bedeutung eh schon ganz erschlagen bin, nehme ich Alter und Einzigartigkeit einfach hin, schließe die Augen und genieße die tausendjährige Stille. Durch die Stille aber drängt sich alsbald die Frage auf, wer denn die heilige Euphemia gewesen sei, der zu Ehren man im 12. Jahrhundert eine Basilika auf die Fundamente eines lombardischen Palastes setzte, unter Belassung einiger Säulen und Weiterverwendung des Steinmaterial (von lat. mater gleich Mutter, ital. u. span. madre).
Nun denn: Die heilige Euphemia ist eine christliche Märtyrerin des dritten Jahrhunderts. Sie stammt aus Chalkedon am Bosporus, so der griechische Name für den heutigen Istanbuler Stadtteil Kaldiköy, welcher als griechische Kolonie gegründet wurde, noch weit vor Byzanz, dem späteren Konstantinopel. Euphemias Reliquien liegen im istrischen Rovinij, also der ehemaligen venezianischen Handelsstadt Rovigno bzw. dem römischen Arupinium, als deren Schutzpatronin sie ebenso fungiert wie für mehrere Gemeinden Portugals, Frankreichs und Andalusiens, deren Namenspatronin sie zugleich ist. Halleluja Europa, heilige Vielfalt, wohin man schaut: was für Verstrickungen! (Anmerkung für Hannes, den Sturmfriseur: Abschnitt bitte erneut durchlesen!)
Ich trete aus dem Schutz und der Kälte der Kirche auf das warme, dampfende Pflaster. Der Himmel hat aufgemacht, es regnet große, schwere Tropfen . Unter Torbögen suche ich Schutz, und laufe entlang der Fassaden, bis der Regen (span. lluvia, ital. pioggia, frz. pluie) nachlässt. Dann steige eine falsche Treppe hinab, verlaufe mich anschließend wiederum so gründlich, wie es in einer Kleinstadt nur möglich ist. Einer Kleinstadt auf einem Hügel in Umbrien.
PS.: eu ist altgriechisch für „gut“, phemi die gebeugte Form für „ich sage“, daher das latinisierte Wort vom Euphemismus, zu deutsch Glimpfwort – aber wer sagt denn schon “Glimpfwort”??