Belgrad, unversehens und versehrt

Novi Beograd

Dass ich mich Belgrad nur schwer entziehen kann, das weiß ich schon seit ein paar Jahren. Denn damals war ich im Herbst in der Vojvodina unterwegs, wollte von Subotica aus den Zug nach Budapest nehmen und über Nacht nach Berlin zurückkehren. Allein, daraus wurde nichts, per Anhalter fahren kann in der Tat gefährlich sein: Zwei Bulgaren hatten mich mitgenommen, wir fuhren in einem alten Ford auf der Autoput nach Süden. Ich hatte sie gebeten, mich in Subotica irgendwo rauszulassen, Stadtrand, Tankstelle, ganz egal.

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Nach Subotica waren es keine zehn Kilometer, meine Fahrer jedoch ließen das Ortschild rechts liegen und zogen mit über hundert km/h an der Stadt vorbei. Erst hab ich nichts gesagt, dachte, die wissen das besser als ich, dann jedoch rauschte auch die zweite Ausfahrt vorbei und ich meldete mich zu Wort:
– Jungs, wie steht´s? Wollt ihr mich nicht loswerden, und falls doch, wo?
Es stellte sich heraus, dass die beiden die Hinweisschilder nicht ganz ernstgenommen hatten, denn eine Stadt war ja nicht zu sehen gewesen. Die Vojvodina ist flach wie ein Brett, Subotica versteckt in einer Senke, direkt neben der Autobahn und ist nicht zu sehen, wenn man auf Sicht fährt – und die Bulgaren fuhren auf Sicht, wie sich herausstellte.
Ich so: ok, kein Ding, dann halt Novi Sad, auch dort macht der Zug Station, der einzige Zug des Tages, und den müsste ich auch noch erwischen. Nun ist es aber so, dass zwischen Autobahn und Novisad die mächtige, breite Donau fließt und sich das Land an ihrem Ufer zu einem sanften Hügel aufwirft, einem Hügel, hinter dem sich  Novi Sad versteckt hält.

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Wir hatten eine Südeuropa-Karte mit an Bord, im Maßstab eins zu was-weiß-ich, Novi Sad erschien dort als roter Punkt direkt am fetten Strich der Autobahn, meine Fahrer warteten darauf, dass dieser Punkt wirklich würde, sich an die Fahrbahn drängte und man mich entlassen könne. Die Wirklichkeit jedoch ist größer als jeder Plan, Novi Sad blieb unsichtbar und damit nicht existent. Wir rauschten auch dort vorbei. Eine Viertelstunde lang habe ich hin- und her überlegt, abgewogen, ob es sinnvoll wäre, an der nächsten Tanke auszusteigen, den Plan aber schnell verworfen, weil ich den Zug niemals kriegen würde, und mich schließlich gefügt, in den offensichtlichen Eigensinn der Umstände.

Die Stadt, die nächste Stadt, die kein Punkt mehr ist, sondern ein rotes Vieleck auf der Karte, die Stadt, durch welche die Autobahn schließlich hindurchführt, das ist Belgrad. Und so kam es, dass ich einem kühlen Oktoberabend auf einmal in Belgrad stand, am Rand der Autobahn, mich verabschiede und einen Weg in die Stadt suche, ganz gegen meinen Willen und dem Automatismus der Umstände geschuldet. Belgrad liegt, ja man muss es so sagen, auf einer Halbinsel, umflossen von Sava und Donau, inmitten von trägen, breiten, mächtigen Wassern. Schwimmende Häuser liegen gegenüber der wilden, unbesiedelten Vogelinsel Ratno Ostrvo, in einem Seitenarm der Donau, eines davon ist ein Hostel, das Arka Barka. Von hier aus, von den Ufern Novi Beograds, sieht die Altstadt mit der Burg wie ein Krokodil aus, das im Wasser liegt. Zur anderen Seite hin stehen weit verstreut die Hochhäuser der sozialistischen Neustadt und die Ministerien.

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In einem dieser Hochhäuser wohnt Kiril mit seiner Frau, den ich von früher kenne, der Chirurg ist und der mir erklärt, wie es war, damals vor fast fünfzehn Jahren, als abends pünktlich jeden Tag die Bomber der Nato über die Hochhäuser donnerten und die nahen Detonationen das gesamte Gebäude erschütterten. Nach den Angriffen, als Ruhe einkehrte, begann für ihn die Arbeit, das rote Licht des Piepers fing zu blinken an und er eilte ins Krankenhaus. Routine sei das gewesen, über Wochen das gleiche Spiel.

Wir vergessen das gerne, haben nicht auf dem Schirm, das ein paar Flugstunden von Berlin oder München entfernt, die Welt nicht so fest gefügt ist, wie sie uns zu sein scheint – sondern vielmehr alle paar Jahre erschüttert wurde, zusammenbrach und ebenso neu gefügt wurden musste, verkittet oder in Gips gelegt wie die brüchigen Biographien. Lange haben die serbischen Regierungen die zerbombten Gebäude der Innenstadt stehen gelassen, sichtbar gelassen, was geschah und sich geweigert, die Wunden zu kaschieren. Kiril ist kinderlos geblieben, was in dieser Gegend absolut unüblich ist, ja fast einem Skandal in der Familie gleichkommt, ein Krieg kam ihnen dazwischen und anschließend war alles anders und das einfach Weitermachen alles andere als leicht.

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