Der dritte Mann, oder: Umweg nach Georgien

Mein allererster Aufenthalt in Georgien liegt sechs Jahre zurück und hatte sich eher zufällig ergeben: Mein Plan war es damals gewesen, von der türkischen Schwarzmeerküste aus in die Berge zu gehen, auf die Yaylas zu steigen, die erstaunlich grünen, satten Weidegründe im Kaçkar-Gebirge keine vierzig Kilometer von der Schwarzmeerküste entfernt. Ich flog nach Istanbul, von dort weiter nach Trabzon, um mit dem Überlandbus spät in der Nacht in Sürmeme anzukommen.

In Sürmeme kannte ich über Bekannte von Bekannten einen türkischen Marineoffizier, mit dem ich über Mail Kontakt aufgenommen hatte und der sich sofort bereit erklärte hatte, mir Unterkunft zu gewähren – wann und so lange ich wolle, dies waren seine Worte. Die Autobahn war geisterhaft leer gewesen und im Bus hatte niemand gesprochen, obwohl dieser fast voll war. In Sürmeme wurde ich entlassen, der Fahrer zeigte mir noch die Richtung zur Polizeistation, wo ich meinen Gastgeber treffen sollte.

Mein eigentlicher Gastgeber war jedoch gar nicht vor Ort und hatte stattdessen seinen Mitbewohner beauftragt, mich abzuholen und für mein Wohl zu sorgen. Von diesem wiederum war ich während der Fahrt mittels Textnachrichten instruiert worden, hatte aber kurz vor Sürmeme erfahren, dass er auch nicht da sei, sondern im Hinterland auf Familienbesuch weilen würde: Ein dritter Mitbewohner würde mich abholen und zur Wohnung geleiten. Auf diesen dritten Mann wartete ich vor dem Gebäude, das ich für die Polizeistation hielt.

Zwei Fahnen flatterten in der Nacht und ein ovales Schild zeigte die Insignien der türkischen Republik. Der dritte Mann kam nicht. Ich stand im kühlen Wind, müde von der Reise, hungrig und hilflos und fragte mich, was zu tun sei. Es gibt auf Reisen Momente großer Einsamkeit und dieser zählte dazu. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen und beschloss, nicht in Aktionismus zu verfallen sondern einfach zu warten. Meistens hilft das, meist kommt die Lösung von alleine. Und die Lösung kam von alleine, in Form einer Textnachricht vom zweiten Mann, in Großbuchstaben:

– WHERE ARE YOU

Ich tippte sämtliche Buchstaben des offiziellen Schildes hinter mir ab:

– SÜRMEME YURT MÜDÜRLÜGÜ ÖZCAN KIRALI ÖHRENCI YURDU

Die Antwort kam sofort und sie entsprach meiner Philosophie:

– YOU WAIT

Der dritte Mann brauchte keine drei Minuten, um von der Polizeistation, wo er gewartet hatte, zum staatlichen Studentenwohnheim zu gelangen, wo ich wartete. Sein Name war Talha, wir redeten und lachten den gesamten Weg hinauf zum Wohnblock, man konnte das Meer riechen und die üppige Vegetation ebenso. Alles war gut.


Am nächsten Tag erwachte ich mit Blick über die stillen, grauen bewegungslosen Wasser des Schwarzmeers. Auch der Himmel war von lichtem Grau, die Sonne halb verschwunden, weit oben kreischten die Möwen, unten antworteten andere Vogelarten mit melodischeren Klängen. Zwei Bauern bearbeiteten ein Feld, das genau im Schatten des neuen Wohnblocks lag, in dem ich untergebracht war. Mit Talha ging ich über kleine Straßen und Treppen hinunter zur Stadt, zum Ladengeschäft und zur Bäckerei, wo wir Simits frühstückten. Talha ließ mich ziehen, er hatte Termine und so konnte ich mir die Stadt alleine erlaufen.

Ich landete jedoch schnell im Teehaus, denn die Alten waren solange quer über den kleinen Platz neben der Moschee gelaufen, bis es einem von ihnen gelungen war, wie zufällig meine Bahn zu kreuzen und mich nach dem Woher und Wohin zu fragen. Schnell war jemand gefunden, der Deutsch konnte.

– Hitler sei doch ein großer Mann gewesen, nicht?

Nun, wenn ich in Betracht ziehen würde, dass nur die Hälfte der männlichen Mitglieder meiner Familie aus dem Krieg zurückgekehrt sei, die zudem ihre Heimatstadt Nürnberg in Schutt und Asche vorgefunden hätten, dann schiene mir dies zweifelhaft. Das Thema „Hitler“ war damit umschifft, aber es gab ja noch das andere Standardthema zu klären.

– Verheiratet sei ich doch?

– Nein, sage ich und denke: noch nicht.

– Kinder hätte ich also keine?

– Nein, sage ich und denke: bislang.

Die Alten sind ein wenig schockiert, sie mustern mich, bis einer die zwingende Frage ausspricht:

– Und warum nicht! (Ausrufezeichen)

Älteren türkischen Männern das Konzept romantischer Liebe zu erklären und auf der Vorstellung zu beharren, die Richtige müsse es sein, ist ebenso unmöglich, wie zu erläutern, was diesbezüglich alles schief gehen kann (eine ganze Menge nämlich). Und wer keine Kinder hat, der gilt dortzulande auch nicht als Mann, der bleibt ein Junge, ein Bürschlein, ein Dahergelaufener, ein Tunichtgut.

Es gelingt mir zum Glück, das Gespräch bei einer neuen Runde Tee auf mein Vorhaben zu lenken. Ich erzähle, das mir die türkische Schwarzmeerküste samt der Berge, der Weiden und der Viehzucht Teilen meiner Heimat von Ferne betrachtet ziemlich ähnlich schien: sehr grün, sehr regnerisch und stellenweise alpin. Dies würde mich interessieren, daher wolle ich das Kaçkar-Gebirge für mich entdecken! Da gäbe es nichts zu entdecken, war die unmittelbare Antwort.

Das Kaçkar-Gebirge sei völlig verschneit, dort oben läge soviel Schnee wie schon seit Jahren nicht mehr. Niemand würde jetzt dort hinauf gehen. Das Jahr wäre ein kaltes und nur der Wind und der Schnee würden die Weidegründe aufsuchen, Mensch und Vieh aber erst in ein paar Wochen hinaufziehen!

Meine Pläne änderten sich.


Die Wohnung, in der man mich aufgenommen hatte, war eine der dreckigsten, die ich je gesehen hatte. Meine Gastgeber waren allesamt Offiziersanwärter der türkischen Marine, keiner von ihnen hatte jemals auch nur einen Gedanken daran verschwendet, Bad- oder Toilette zu putzen oder auch nur die Teebeutel in den Müll zu schmeißen. Die Teebeutel landeten nach Gebrauch neben der Spüle, häuften sich dort, bluteten aus und trockneten an.

Zudem schrak ich vor der Duschkabine ernsthaft zurück und beschloss, dass nicht zu duschen die hygienischere Option darstellte. Talha und die beiden anderen stammten aus den Dörfern und waren dort wohl nie mit der Aufgabe konfrontiert gewesen, Bad und Toilette zu putzen, den Müll runterzubringen oder Essensreste zu entsorgen und Teller abzuwaschen. Es kam ihnen einfach nicht in den Sinn.

Es ist nicht so, dass mich der Anblick von alten Teebeuteln und sich stapelnden Müllsäcken gestört hätte, eher war es der Grundgeruch, der von all dem ausging und der schon nach zwei Nächten zu dem Entschluss führte, Sürmeme wieder zu verlassen. Ich gab Talha Bescheid, dass ich mich am nächsten Tag schon auf den Weg machen würde und Talha beschrieb mir, welchen Bus ich anhalten solle und wie mir das gelingen würde:

– Nicht winken, sondern den Arm ausstrecken und auf und ab bewegen! So als würdest du den Bus abbremsen wollen. …wenn du winkst, dann ist das nett: Sie werden sich darüber freuen und vielleicht zurückwinken, aber nicht anhalten!

Ich stand also im schönsten Sonnenschein an der Autobahn und starrte angestrengt auf die heranfahrenden Busse, um rechtzeitig die Schilder hinter der Windschutzscheibe zu entziffern und den richtigen Bus heranzuwinken. In Rize machte ich Mittag, beschloss aber, obschon die Provinzhauptstadt angenehm lebendig war, auch dort nicht zu bleiben, um stattdessen noch am selben Tag im Kleinbus über die georgische Grenze nach Batumi zu fahren. Von der türkischen Schwarzmeerküste nach Norden zu fahren, nach Georgien, dies fühlte sich an, als würde man gen Süden ziehen: Die Vegetation ändert sich, Palmen, Bananenstauden und Teeplantagen zeigen ein milderes Klima an. Es ist, als wären mit Georgien die Koordinaten verschoben worden, als wäre die Geographie in Unordnung geraten.

Batumi, die Hauptstadt der georgischen Teilrepublik Adjarien, schien mir wie ein Mini-Dubai zu sein mit all seinen hochgeschossigen Hotels, den pompösen Casinos, den Verbrechen am Bau. Es drängte mich weiter nach Tbilisi: Die Umstände hatten mich nach Georgien anstatt in die türkischen Küstenberge verschlagen und jetzt wollte ich mich nicht mit einer kitschig explodierten georgischen Küstenstadt zufrieden geben, sondern gleich das Zentrum des Landes aufsuchen. Noch am selben Tag nahm ich den Nachtzug. Auf die Yaylas war ich vorbereitet gewesen, hatte Kartenmaterial einstecken und die entsprechende Ausrüstung samt einem Band Kauderwelsch „Türkisch“ dabei – und landete mit all dem eines nebligen Morgens in der georgischen Hauptstadt.

Später stellte sich heraus, dass „Talha“ auf georgisch „Welle“ bedeutet, und so lässt es sich wohl als eine Welle begreifen, die mich unversehens in Sürmeme erfasst hatte und erst in Tbilisi wieder freigab und in der Altstadt anspülte. Fast ohne mein Zutun.

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