Die 36 Stunden des Andreas Schmied (II)
Ein paar Tage später traf Andreas wirklich auf Thasos ein. Diesmal stand ich am Kai in Prinos, um Andreas abzuholen. Dimitris hatte ihn in der Tat rausgeboxt, in dem er wusste, welche Hebel zu betätigen waren. Es gab keine Anklage, der Wein war jedoch konfisziert und der Betrag, um das Auto auszulösen, war empfindlich hoch gewesen.
– Steig ein!
Kein Dreitage-Bart, das Sakko makellos, Andreas sah aus wie immer.
– Wir fahren nach Mikro Kazaviti. Alles andere später.
Ich berichtete vorsichtig, was sich auf der Insel zugetragen hatte und wie sich die Nachricht vom Weinschmuggel verbreitet hatte. Andreas echauffierte sich, er zog über die Zöllner her, die Bedingungen in der Zelle, die Kosten, vor allem die sozialen Kosten, jetzt, wo er der gesamten Insel als Schmuggler galt. Wenn er sich aufregt, dann neigt Andreas dazu, Wörter zu verwechseln bzw. aufgrund von Ähnlichkeit falsch zu gebrauchen:
– Jetzt bin ich auf der ganzen Insel phlegmatisiert, für die bin ich ein rotes Tuch.
Wir waren uns im Klaren darüber, dass sämtliche unserer Pläne für den Sommer auf Eis lagen. Ganz davon abgesehen, dass uns das nötige Material für Andreas Eroberungszug fehlte – der Wingert vor Ort warf nur Kleinstmengen ab -, niemand würde mit uns Geschäfte machen wollen, ganz gleich wie legal diese sein würden.
Gras musste über die Sache wachsen, Ruhe musste einkehren, erstmal galt es Übersicht zu gewinnen. Um zu verschnaufen, war jedoch keine Zeit. Denn wie es der Teufel wollte, stand für den Abend eine Geburtstagsfeier auf der Agenda. Andreas wollte nicht und weigerte sich eine Stunde lang beharrlich, gab dann jedoch nach, denn ich hatte ihm klar gemacht, dass die Situation eigentlich ideal ist:
– Du gehst da erhobenen Hauptes rein, beantwortest alle Fragen und dann ist gut.
– Gar nichts mach’ ich.
– Doch, das ist perfekt: Alle auf einem Haufen.
– Das Maul zerreißen die sich.
– Ja, eben: vor allem wenn du NICHT auftauchst. Einmal allen ins Gesicht schauen und erledigt ist es.
– Ich bin erledigt, das ist der Punkt.
Musikfetzen und Stimmen drangen von Stamatias Taverne zu uns hinauf, die Gesellschaft musste bereits eingetroffen sein. Es war langsam an der Zeit. Dummerweise handelte es sich nicht um Griechen, sondern um die kleine Gemeinschaft der Deutschen aus Megalo Kazaviti, zwei Kilometer weiter oben im Tal, auf dessen Sonnenseite. Diese hatten in den 80ern und 90ern kleine Häuschen am Hang günstig erstanden und schrittweise renoviert und pendelten nun zwischen Süddeutschland und Thasos. Ein oder zwei hatte ich bereits während meines ersten Aufenthalts kennengelernt, der Rest war mir unbekannt.
Wir gingen die hundert Meter hinunter, durchquerten das Meer an Katzen, das Stamatias Taverne Abend für Abend umlagerte und betraten die Taverne. Stamatia stand in der offen Küche, blickte auf und sagte nicht ohne Herzlichkeit:
– Der kleine Ssmuggler ist wieder da! So sagt man doch: ssmuggln?
Stamatias Ehe mit Jannis war kinderlos geblieben und das war sicher mit ein Grund, warum sie Jahre zuvor Andreas so herzlich aufgenommen und ihm das kleine Haus von Stamatias Mutter überlassen hatten. Es war gewiss auch ein Grund für die hundert Katzen, die verlässlich von Stamatia gefüttert wurden, deswegen auf den Fensterbänken lagen, die Tür blockierten und alle Naslang über die Terrasse streunten.
Der Gastraum war vollständig leer, bis auf Onkelchen, der in einer Ecke saß und still dem Tsipouro zusprach. Die Gäste saßen sämtlich auf der überdachten Terrasse und lärmten. Zu allem Überfluss hatte sich zeitgleich eine griechische Hochzeitsgesellschaft eingefunden, die den rechten Teil der Terrasse einnahm, der linke war deutsch besetzt. Ich war verblüfft von der schieren Anzahl an deutschen Bewohner von Megalo. Aus welchem Bau waren die denn geschlüpft? Die jüngsten in der Runde, das war ein Pärchen um die vierzig mit zwei halbwüchsigen Kindern, die sich mit den Katzen vergnügten. Alle anderen waren 50 und älter, hatten gewiss unterschiedlichste Lebenswege hinter sich, schienen an diesem Ort jedoch wie aus einem Guss zu sein: die Kleidung, die Körpersprache, die offensichtliche Solvenz.
Sie hatten die Tische zu einer großen Tafel zusammengeschoben, so dass kein Durchkommen war. Wir grüßten in die Runde, beglückwünschten das Geburtstagskind, winkten Stavros, der als einziger Grieche mit von der Partie war, und nahmen aber drinnen Platz. Dies erwies sich als strategischer Geniestreich: Andreas konnte jeden Bekannten einzeln abarbeiten, sobald dieser im Gastraum vorbeikam.
– Andreas, du schlimmer Junge!
– Ach, nichts passiert! Nur ein bisschen Knast…
Jannis sprengte die Szene, ein breiter Mann, Hände wie Bärentatzen, indem er sich dazwischenschob und Andreas minutenlang eine dieser Tatzen auf die Schulter legte:
– Junge, was machst du Sachen?
Jannis beschloss, sich dazuzusetzen, die Bohnensuppe bei uns am Tisch einzunehmen und für alle gut hörbar eine Runde Bier auszugeben. Das war ein bisschen wie Absolution, die Wiederaufnahme in die Dorfgemeinschaft. Es war seltsam, denn von den Griechen ging Anteilnahme aus, ja Solidarität.
Die einzelnen Nachfragen waren von Pragmatismus bestimmt, nicht von der Frage nach Schuld und Sühne. Stavros zum Beispiel interessierte sich vor allen Dingen dafür, wie der Zoll das angestellt hatte, Andreas so viel Geld aus der Tasche zu ziehen. Nun ist es so, dass wirklich jeder Grieche in der einen oder anderen Form, das Gesetz streckt, beugt oder ignoriert. Das gehört zur Überlebensstrategie und zum guten Ton. Nur redet da niemand drüber und es gehört sich ganz und gar nicht, bei Übertretungen erwischt zu werden. Und sollte dies doch geschehen, dann wird Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, dies nicht öffentlich werden zu lassen.
Bei den Deutschen jedoch überwog Vorwurf, moralisches Urteil und eine Art Schadenfreude, eine Lust am Niedergang anderer. Nur einer der Runde kam auf die Idee, sich zu erkundigen, wie es denn weitergehen solle.
– Und was hast du jetzt vor?
– Also jetzt erstmal Bier!
Während wir weiter drinnen Hof hielten, eskalierte draußen auf der Terrasse die Lage. Man kann sich das nicht ausdenken, aber die Runde der Deutschen hatte (anscheinend zur Völkerverständigung) die Ode an die Freude vorbereitet, Version mit Gitarre. Europahymne und so, Sie verstehen? Aufgrund der mangelnden Textsicherheit wurden Ausdrucke herum gereicht, die durchaus selbstbewusst abgesungen wurden. Nicht ohne Effekt: Die griechische Hochzeitsgesellschaft erstarrte für ein paar Sekunden, ergriff dann aber die Initiative und beugte durch Einschalten eines kleinen Bluetooth-Lautsprechers weiteren Darbietungen vor. …was auf mein vollstes Verständnis stieß, denn der Rhythmus rudimentären Gitarrengeschrammels hatte Beethoven zur Marschmusik degradiert, es war kurz vor Schunkeln gewesen. Aufgrund dem nunmehr dahin scheppernden Plastiklautsprecher gab sich der Gitarrenspieler beleidigt, suchte das Weite bzw. das Innere der Taverne auf, vergass dabei völlig, Andreas in irgendeiner Form zu maßregeln – er polterte stattdessen, verletzt wie er war, sofort drauf los:
– Unfassbar! Kein Respekt! Keine Kinderstube…
Mein Hinweis, dass deutsches Liedgut, ganz unabhängig von der Qualität der Darbietung, nicht in allen griechischen Familien wohlgelitten sei, es gäbe da Gründe…, der ging leider in der Tirade unter. Später, als wir die Taverne schon verlassen hatten und vor dem Haus saßen, um den Abend Revue passieren zu lassen, nahm die deutsche Runde den Gesang wieder auf: In Form von „Countryroads take me home“, welches verlässlich auch volltrunken abgespult werden kann.
– MEGA-PEINLICH das alles, sagte ich.
– So sind sie nun mal, schnell indigniert…
Drüben in der Taverne wurde eine Spielart von Jaggers „Satisfaction“ angestimmt, die jeder Beschreibung spottet, außer jener von Andreas, dem samt spätabendlicher Ruhe auch der Fremdwortschatz wieder zur Verfügung stand:
– NICHT satisfaktionsfähig, sowas!