Hundert Meter Landstraße

Wovon soll ich erzählen? Von den zurückgelassenen Hunden, die erschossen und in die Tiefkühltruhen gelegt wurden? Vom Minimoloch Prishtina, den sich überbietenden Hochhäusern, oder den serbischen Dörfern, sieben Kilometer vom Zentrum? Vom Hügelland zwischen der Hauptstadt und Gjilan, das aussieht wie meine fränkische Heimat? Von den drei Flaggen, der blauen mit den Sternen, der roten mit dem Doppeladler und derjenigen mit dem Königswappen?


Soll ich davon erzählen, dass noch nichts vorbei ist, oder dass jeder im Kosovo nur nach vorne will? Dass es aussieht wie man sich Amerika vorstellt, nur enger – mit all den Shoppingcentern, den Leuchtreklamen und den Möbelhäusern. Oder doch lieber von der Straße nach Mitrovica, von Lulis Flucht und seiner Rückkehr? Wie keiner mehr da war und Luli die Nachbarn suchen gegangen ist, der eine erschossen auf dem Sofa, sodass Luli ihn einschlug in ein weißes Handtuch, über die Schulter hievte und über die Straße schleppte, hin zur Moschee und dem Friedhof. Ein paar Fuß tief nur habe er ihn begraben. Und später, als die Straße wieder sicher gewesen sei, zurückkehren müssen, um ein wirkliches Grab auszuheben.

Gar nichts hatte ich gefragt, Luli hatte von sich aus  zu erzählen angefangen, stockend doch konsequent. Wie er kaum zwanzig vor der Einberufung geflohen sei.

Warum er überhaupt zurück gekommen sei, will ich wissen. Luli sagt:

– Frau, Kinder, Familie.

Drei Monate war er in Italien bei seinem Cousin in Bozen gewesen, nur drei Monate, bevor er zurückgegangen ist. Dorthin wo Heimat gewesen war und inzwischen ein Kriegsgebiet. Zu Fuß und durch die Wälder war er geflohen, dann aber hatte ihn die Unsicherheit zermürbt, Nachrichten von der Familie hatte es keine gegeben, das Warten hielt er nicht mehr aus. Also ging er zurück, wieder zu Fuß, wieder durch die Wälder.

Das Haus seiner Familie steht oder besser stand an der Überlandstraße nach Mitrovica, keine fünf Kilometer außerhalb von Prishtina. Zwei lange Jahre habe er dort gelebt, alleine, denn alle anderen waren weg: in Albanien, in Montenegro oder der Schweiz, im fernen Deutschland. Von seinem Dorf spricht er, wo ich nur die Ausfallstraße sehe, die breite Brücke der neuen Autobahn, die große Tankstelle und die neuen Häuser. Alle Häuser sind neu, die alten wurden angezündet, nur einzelne standen noch, weil die Vorhänge nicht brennen wollten.

Lulis Freund wohnte über der Straße, wo die Häuser einen anderen Namen tragen und nahe am Wald stehen, was 1999 von Vorteil war. Luli spricht von zwei verschiedenen Dörfern, wo für mich nur Ausfallstraße ist, anonyme Bauten, Durchfahrtsverkehr. Wobei im Süden und Westen Prishtinas alles dicht ist, nach Norden und Richtung Serbien erheblich weniger Verkehr herrscht. Der Freund hatte ausgeharrt, war geblieben, auch als die Familie lange schon weg war. Wegen dem Haus. Sich besuchen ging nur nachts, im Schutz der Dunkelheit. Von der Shilouette habe er gedacht, dass es sich um ihn handeln müsse, die Tür geöffnet. Aber dort standen zwei Militärs, serbische Paramilitärs.

– Was machst du hier?

– Es ist mein Haus.

– Wo ist die Familie?

– Weg.

– Warum?

– Keine Ahnung.

– Wozu hier? Alleine?

– Wegen dem Haus, einer muss doch nach dem Vieh sehen, den Hühnern!

– Du lügst.

Luli zeigt die Narbe am Hals und auf den Kieferknochen, dahin wo der Gewehrkolben niedergegangen war. „Du kannst nicht bleiben!“ dachte er ein paar Tage lang, aber erst als er herausgefunden hatte, wo die Familie hin ist, ist er wieder los, wieder durch die Wälder. Luli ist genauso alt wie ich. Es ist noch nicht vorbei.

Alles im Kosovo ist neu, alles, außer den serbischen Dörfern, in die keiner mehr investiert, deren Häuser nicht renoviert werden. Die Straßen sind neu, die Tankstellen und die Shoppingmeilen. Alles außer den albanischen Dörfern, in die keiner zurückkehrt, weil sie am falschen Berghang stehen und heute noch Furcht herrscht, nachts abgefackelt zu werden. Aber auch Lulis neues Haus, gebaut nach dem Krieg, steht nicht mehr, er zeigt auf die Betonpfeiler der Autobahn:

– Dort war es.

Schnell kommt die Zukunft im Kosovo, zu schnell, um sich einzurichten, zu schnell, um aufzuräumen mit den alten Geschichten.

 

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