Zelle Nr. 4 der Kartause von Valldemossa
Valldemossa ist eine touristische Attraktion, bildhübsch inmitten der Berge gelegen, gekrönt vom Kirchturm des Karthäuserklosters, welches dadurch Berühmtheit erlangt hat, das hier einst Madame George Sand, so der Künstlername der Baroness Dudevant, mit ihrem kränklichen Sohn und dem kranken Liebhaber Frederic Chopin überwintert hat.
Dem Sohn Maurice würde die spanische Sonne gut tun und Chopin zumindest nicht schlecht: Die Pariser Ärzte rieten zu einer Reise in den Süden, in die Sonne, in mildere Gefilde.
Dass es gleich Mallorca hatte sein müssen, ist dem Abenteuer- und Entdeckergeist George Sands geschuldet und gewiss auch ihrer Verehrung Jean-Jacques Rousseaus sowie dessen romantisch-fortschrittskritischen Ideen von Natur, von Ursprünglichkeit und Bauerntum! Das Befinden Chopins verschlechterte sich bereits im Anschluss an die Überfahrt anfang November 1838 so rapide, dass man in Palma umgehend ärztlichen Rat suchte. Chopin wurde Schwindsucht, also Tuberkulose diagnostiziert, ein Befund, dem aber niemand Glauben schenken mochte, denn weit zeitgemäßer schien doch die „nervöse Störung“ zu sein, um welche es sich noch in Paris gehandelt hatte.
Um die spanische Sonne war es überdies nicht gut bestellt, denn auch auf Mallorca setzt, wie im gesamten Mittelmeerraum, ab November ein feuchter, kühler Herbst ein und lange Regentage werden von aufbrausenden Stürmen begleitet. Dessen ungeachtet beziehen Maurice, Chopin, die Sand und ein eigens importiertes Klavier im noch kälteren, noch regnerischen, noch stürmischeren Bergdorf Valldemosa im Dezember eine Zelle einer verlassenen Kartause. Diese war 1835 säkularisiert worden, die neun Zellen in Privatbesitz übergegangen und konnten günstig angemietet werden.
Chopin komponiert in Valldemossa unter anderem die Préludes, darunter die Nr. 15, die wohlausbalancierte, bedachte gesetzte Regentropfen-Prélude, laut der Erinnerung von George Sand in fiebrigem, ja tranceartigem Zustand. Chopin beschreibt die Zelle im Brief als „hohen Sarg, das Gewölbe verstaubt, die Fenster klein“, Sands das Gemäuer als von Sturm-Creszendi und von heftigem Regen-Stakkato umtost.
Die Zelle, Celda Nr. 4, ist samt Mobiliar und Devotionalien wunderbar erhalten, in ein Chopin-Museum umgewandelt worden und das kleine Klavier steht noch genau dort, wo es damals stand. Sie mit einer Berliner Drei-Zimmer-Wohnung zu vergleichen wäre nicht ganz daneben, doch fehlt die Küche und ein Bad, stattdessen gibt es einen Ofen, einen Waschtisch und einen opulenten Wandelgarten. Ich kann mir gut vorstellen, wie kalt und klamm die Klostermauern im Winter gewesen sein müssen, wie schlecht beheizbar und wie unheimelig im Vergleich zum damals schon mondänen, luxuriösen Paris und seinen Annehmlichkeiten für die Arrivierten, zu denen sowohl George Sand als auch der junge Chopin bereits gehörten. Von einer unwirtlichen Klosterzelle aber zu sprechen, wie es beide unternehmen, weckt falsche Assoziationen, die der Askese nämlich, und von der kann keine Rede sein. Das Bett ist keine Pritsche, sondern ein ausladendes Lager, das Mobiliar bürgerlich und die Bibliothek des Abtes samt einem Band des Systema Cosmicum von Galileo Galileo außerordentlich gut bestückt und noch heute prächtig erhalten.
Vielleicht wurde an manchen Stellen heimlich nachgebessert, das ein oder andere Möbelstück dazugestellt, aber grundsätzlich sind die Schwierigkeiten weniger in der Beherbergung zu suchen, als im Auftritt unserer Reisenden und der damit einhergehenden, spärlichen Hilfe von außen. Denn es ist nun einmal so, dass der frisch geschiedene, mit einer ansteckenden Krankheit diagnostizierte Chopin, die ebenfalls geschiedene, zu allem Überfluss öffentlich rauchende Sands samt Sohn eine dermaßen illustre, unmoralisch-verdorbene Gesellschaft abgeben, dass es einen nicht Wunder nimmt, wenn die damalige bäuerliche Gemeinschaft Valldemossas mit Vorsicht oder gar Ablehnung reagierte. Aber das reine Arbeitspensum der beiden – Sand muss schreiben, sie lebt davon, Chopin muss komponieren, er lebt davon – lässt darauf schließen, dass die anschließende literarische Ausgestaltung der mallorquinischen Reise eher an Legendenbildung interessiert war, denn an einer wahrhaftigen Aufarbeitung.
Nach neunzig Tagen bereits, also im Februar und somit ohne in den Genuss des Frühlings gekommen zu sein, fliehen beide Mallorca wieder und müssen, um das Fiasko komplett zu machen, die Überfahrt nach Barcelona zusammen mit Schweineherden bestreiten, über deren Lärmpegel sich Sand laut ihrem eigenen Bericht beim Kapitän beschwert, erfolglos wie sich versteht. Kein Jahr später beginnt Madame Aurore Dupin, wie die Sand bürgerlich heißt, in der Revue des Deux Mondes von ihrem katastrophalem Ausflug zu berichten, inklusive einer Kritik der mallorquinischen Schweinehaltung an sich.
Die Artikel sollten später als Ein Winter auf Mallorca zum Buch zusammengefasst werden und sich bis auf den heutigen Tag (auch auf Mallorca) gut verkaufen, obschon es sich um ein Dokument der Enttäuschung und des Grolles handelt. Ein Dokument der Abrechnung, das Natur und naturaleza, arabisches Erbe und Herrenhäuser (wie La Granja bei Esporles), kurz alles Romantische zwar eloquent lobt, sich aber vehement gegen die Mallorquiner selbst richtet, über weite Strecken den Anschein überlegener Einsichten, höheren Wissenstands pflegt, wobei klar sein dürfte, dass George Sands die Menschen, über deren Lebens- und Produktionsweisen sie urteilt, noch nicht einmal verbal verstanden haben konnte.
Für die zeitgeschichtlichen Umstände, für die Kriegswirren um die spanische Thronfolge, aufgrund derer sich Mallorca in einer Art abwartenden, unsicheren Belagerungszustand befand, zeigt sie weder Interesse noch Verständnis, streift nicht ansatzweise den Sachverhalt, dass die Truppen eines gewissen Napoleons keine dreißig Jahre zuvor Mallorca ihre Aufwartung gemacht hatten und erwähnt nur am Rande, dass in Frankreichs Parlament die Frage eines erneuten Einmarsches und einer Annexion Mallorcas nicht vom Tisch ist.
Mit einem Wort: George Sand ist unempfänglich für große Teile der Wirklichkeit geblieben, sie blendet das politische Zeitgeschehen weitgehend aus und zeigt wenig Neigung, sich auf Fremdes einzustellen, so es nicht in Gestalt erhabener Natur, sondern schlechten Wetters oder eigensinniger Menschen daherkommt. Sie zeigt auch heute noch, wie politisch eine unpolitische Haltung ist und dass ein Zeugnis der Kultur zugleich eines der Barbarei sein kann (Benjamin). Die gepflegte Uniform und das gute Aussehen einiger versprengter Truppenteile auf dem Festland lobend hervorzuheben und drei Sätze weiter zu schreiben, das Ross und Reiter zuweilen doch gar dünn aussähen, ja von geradezu ausgemergelter Gestalt, zeugt von einer aristokratischen Lebensferne, die durch einfaches Reisen nicht aufgehoben werden kann.
Das ganze Fiasko dieser Fahrt in den Süden ist schlicht und einfach dem Unverständnis geschuldet und Mallorca nicht der idyllisch-paradiesische Süden, nicht das gesegnete Zwischenstück zwischen Europa und Afrika, das man sich ersehnt hatte, in dessen Sonne man sich hatte baden wollen und von dem man anfangs noch zu schwärmen versuchte, sondern eine bäuerlich geprägte, ärmliche Insel im fortschreitenden Winter und faktisch im Kriegszustand.
Chopin war im Anschluss an die Flucht aus Mallorca – das Klavier blieb dort – schwer angeschlagen. Nach der Überfahrt wäre um sein Leben gefürchtet worden, schreibt Sand. Das französische Kriegsschiff, das beide in Barcelona aufnimmt, ohne dass sie spanischen Boden hätten betreten müssen, begrüßt sie mit Vive la France, lobt Bildungsgrad und Distinktion der französischen Offiziere, die Sauberkeit an Bord und wähnt sich einer, ich zitiere wörtlich, „unmenschlichen Rasse“ entronnen. Bleibt anzumerken, dass Sand und Chopin auf der folgenden Station, Marseille, ganz ähnlichen Schwierigkeiten ins Auge blicken mussten wie zuvor schon auf Mallorca.
Die Pariser Ärzte sollten übrigens auf ihre Weise Recht behalten. Sie hatten diagnostiziert, die „nervöse Störung“ Chopins würde sich noch vor dessen vierzigstem Geburtstag legen: Chopin starb mit 38. An Tuberkulose.