Jedes Land hat seinen Süden
Für Polen beginnt das Wunder jenseits der Tatra, wo die Farben intensiver werden und die Schatten greifen, für die Murmansker Bevölkerung im Oblast Pskov, denn dort gibt es Apfelbäume, für die Deutschen hinter den Alpen, denn dort blühen die Zitronen. Jedes Land hat seinen Süden. Und der Süden steht für das, was man entbehrt. Deswegen will man dort hin oder sich zumindest dort hinsehnen dürfen. Ist man dann einmal dort, dann reichern sich die Sehnsüchte automatisch mit Wirklichkeit an. Das ist zumindest zu hoffen.
Ich sollte doch über das Unitalienische der Italiener schreiben, wird mir bei Tagliatelle al Ragù gesagt (Spaghetti Bolognese gibt’s es überall, nicht aber in Bologna, logisch). Das Italienische würde man schließlich in Deutschland allzu gut kennen und wäre Gegenstand nahezu jeder Verlautbarung seit Goethe. Der, der mir das mit auf den weiteren Weg gibt, ist Übersetzer und hat lange in Oldenburg gelebt, was ich (meine Mutter ist dort aufgewachsen) als sportliche Leistung für einen gebürtigen Sarden betrachte.
Ich aber bin in Bologna und nicht in Mailand, beobachte Wiedergänger von Umberto Eco sowie Romano Prodi und keine uniformen Bänker, gehe bei Regenwetter kilometerweit unter den Arkaden entlang und pariere die Wette, trocken geblieben zu sein. Ich werde von einem weiß uniformierten, mit Haube versehenen und damit als solches kenntlich gemachten Hausmädchen auf ein paar Minuten in den Palazzo neben dem Collegio di Spagna eingelassen und darf ein Auge auf den Garten und die Fresken werfen – bevor sie hinter mir wieder abschließt und ich die Klingelschilder besehe, denen tatsächlich zum großen Teil akademische Titel vorangestellt sind (wobei der italienische Dottore ja „nur“ ein Magister Artium ist). Untergebracht bin ich bei einer Spezialistin für Fresken- und Pastellmalerei, die ihr einziges Zimmer mit mir teilt und morgens Kunstkataloge auf den Küchentisch legt, deren Tiefdrucke mir nachmittags zu Leben erweckt werden.
Die frühe Renaissance überfällt mich, die Entdeckung von Affekt und Gefühlen in der Kunst des 15. Jahrhunderts. Die Darstellung von Individualität in sakralen Werken scheint mir der Geburtskanal der Aufklärung und damit auch des heutigen europäischen Selbstverständnisses zu sein. Manche Dinge kommen zu mir wie im Traum, die Bar zum Beispiel, die laut Eigenwerbung 1100 Kochbücher im Verkauf hat, inmitten derer man sitzt und die sich zugleich entziehen, weil ich ja doch nichts damit anfangen kann, denn sie sind ja alle auf Italienisch, zudem eingeschweißt und überhaupt in dieser Anzahl müßig. …die kleinen Lebensmittelläden, die frische Pasta, die Mortadella in den Auslagen, die zahlreichen Osterias, die Stände und Fahnen am ersten Mai, die Gruppen und Grüppchen, die Parteien und Gruppierungen vor den Backsteinmauern: Bologna, la rossa, la grassa, la dotta. Sie trägt diese Beinahmen zu Recht, diese Stadt, und sie vermittelt eine Ahnung vom einstigen Führungsanspruch des Bürgertums, von natürlicher, der Umgebung geschuldeter, osmotisch zu absorbierender Bildung. Was andernorts hinter Glas geschützt liegt oder umlagert wird, steht oder hängt in Bologna so rum, wortwörtlich zum Greifen nahe: Die Ikone von Johannes dem Täufer kann ich im Wortsinne studieren, mich auf Zentimeter nähern, die Pinselstriche erkennen, und staunen, wie in dieses Gesicht ernste Askese und Sorge eingeschrieben wurde.
Mit einem Wort: Italien oder das Italienische fällt in mich ein, ich bin völlig wehrlos, unfähig, über die perfekte Verkehrsführung durch Bolognas Innenstadt zu sinnieren, oder der Mülltrennung auf Bahnhöfen und in Privathaushalten, dem Siegeszug des pane integrale nachzudenken. Stattdessen trete ich aus der Stille der sieben Kirchen hinaus auf die Piazza San Stefano, blicke wenig später verwirrt auf die modernen Ikonen, in das Schaufenster von Louis Vuitton, in dem eine Tasche (eine Tasche!) ausgestellt wird, so wie 500 Jahre zuvor die Madonna, wundere und frage mich, wer den Kram noch haben will, jetzt, wo es sich langsam damit hat. Ich kaufe beiläufig irgendwo eine Foccacia und sie ist die beste der Welt. Ich bin in Italien.