Kiew: Nur für Strukturalisten!



Morgens kurz nach sechs traf der Nachtzug in Kiew ein. Der Tag war verhangen, grau und regnerisch, was die Kälte der großen Stadt noch verstärkte. Eine ganze Weile waren wir durch Vorstädte gefahren, große, ausgehungerte Komplexe an Wohnsilos links und rechts der Eisenbahnstrecke, kilometerlang. Mein Respekt vor der Stadt war zunächst so groß, dass ich es nicht wagte, einfach drauflos zu laufen, obschon ich die grobe Richtung kannte und auch wusste, wo meine Unterkunft ungefähr lag. Stattdessen bestieg ich eine beliebige Marshrutka, wohin genau war egal, näher dran am Zentrum würde es schon sein. Dass die Stationen nicht nur auf Ukrainisch sondern auch in breitestem Amerikanisch angesagt wurden, das wunderte mich nur kurz.

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Die Straßen sind breit, zum großen Teil mehrspurig und gepflastert, laufen kerzengerade über sanfte Anhöhen und Täler quer durch die Stadt. Links und rechts stehen teils pastellfarben gestrichene Klinkerbauten, die mich an das Amerika der 20er denken lassen, teils ein wenig großspurig geratene, palastartige Wohnhäuser, teils monumentale Opern-, Museen und Regierungsbauten. Kiew wirkt ein bisschen so, als hätte es ein reiches aber ästhetisch minder begabtes Kind gleichzeitig mit Lego, Playmobil, Barbie und Märklin gespielt, eine weite, großzügige Szenerie aufgebaut, um dann schnell die Lust zu verlieren und jene weitgehend sich selbst zu überlassen.

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Den Boulevard zum Maidan hin wiederum säumen jene hochgeschossigen, unnütz verzierten, beige gekachelten Wohnburgen, die das Bild von Kiew zur einen Hälfte bestimmen. Die andere Hälfte machen die Kirchen aus, die keine einzelnen Kirchen sind, sondern ganze Anlagen, umzäunt oder ummauert und ebenfalls in Pastell gehalten, aber selbstredend mit goldenen Kuppeln ausgestattet. Kiew erscheint mir seltsam disparat und seltsam leer. Jenseits der U-Bahn-Stationen, jenseits der Labyrinthe der Lädenzeilen im Untergrund, unter den Kreuzungen, unter den Unterführungen, jenseits der kleinen Märkte ist erstaunlich wenig los, was gewiss auch am Regen liegt. Einzig im bessarabischen Markt herrscht Trubel, Gemüse türmt sich, getrockneter Fisch ebenso und alle paar Meter soll ich vom Kaviar probieren, als ob mir um zehn Uhr morgens nach Fischeiern wäre. Den Eindruck der Leere aber, des Disparaten, bestätigen wieder die Regale der Supermärkte, welchen nicht die Funktion der Grundversorgung zukommt, nicht hier, welche es zusätzlich gibt und welche Verzichtbares anbieten.

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Es gibt Städte, die einen umarmen, in denen jeder Weg der richtige ist, weil er zum Ziel führen wird, auch wenn man dieses noch gar nicht kennt. Dann wiederum gibt es Städte, die sich nur den Eingeweihten öffnen, die aus Punkten bestehen, nicht aus Strecken. Bukarest gehört dazu, teilweise auch Berlin, und ganz gewiss Kiew. Das Taxi bestimmt hier den Rhythmus, man kennt den Preis und sagt wo man hin will, spazieren ist nicht, denn die Türen sind zu. Kiew scheint mir etwas für Strukturalisten, nichts für Romantiker – ist etwas für jene, die irdische Ordnung schaffen wollen, nicht für diejenigen, welche einer göttlichen nachzuspüren hoffen.

Durch Zufall lande ich am Samstagabend wieder auf dem Boulevard, der jetzt über ein paar Kilometer abgesperrt ist. Der polnische Kollege, den ich im Restaurant kennengelernt hatte, weil er sich erst umdrehte, dann zu mir setzte, weil da endlich jemand Englisch sprach, konsultierte den Newsticker, um zu sehen, ob eine Demonstration im Anmarsch sei, oder ob Putin nach Odessa und Transnistrien greifen würde. Dem war natürlich nicht so, der Boulevard wird an jedem Samstagabend für Fussgänger freigegeben, Bands spielen auf, die Cafés am Straßen- oder sagen wir Autobahnrand sind voll, draußen ist kein Platz mehr: Es wird getanzt, es herrscht Volksfeststimmung, wenngleich das Volk nicht sehr zahlreich erschienen ist.

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Ein russischer Motorradrocker singt in Mat (d.i. Gansterrussisch) von den Unbilden des Lebens, vom Wodka und den Folgen. Um elf macht der Boulevard zu bzw. wieder auf, die einfahrenden Autos werden in Schrittgeschwindigkeit mit Blaulicht eskortiert, auf dass keine der Alkoholleichen zu Schaden käme, die Musik am Straßenrand geht weiter.
Der polnische Kollege will unbedingt noch in einen Club, er kennt eine Adresse und weiß, was er dem Taxifahrer sagen muss. Das will ich nicht und ich käme mit meinen Wanderschuhen auch gewiss nicht rein, nicht in Kiew, zudem weiß ich, wie das endet. Ich will aufs Land und morgen früh den Bus nehmen: Weiter, in die Tiefe der Ukraine.

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