Kleiner Grenzverkehr: Von Polen in die Ukraine

Natürlich kann man in Krakau einen der zahlreichen Busse nach Lemberg besteigen und wird ohne Umwege dorthin befördert. Meine polnischen Freunde aber schlagen folgenden Triathlon vor: Zug bis in die Grenzstadt Przemysl, Bus bis an die Grenze, dann mit Marshrutka von der anderen Seite bis nach Lemberg-Zentrum. Alles in allem innerhalb von sieben bis acht Stunden gut machbar, wenn man Glück hat. Dies sei mit Abstand die schnellste Methode, die Busse würden regelrecht auseinander genommen, Wartezeiten von fünf Stunden und mehr wären keine Seltenheit.

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Alle paar Minuten fahren Kleinbusse von Przemysl zur Grenze

Wir haben Glück und Lidka verfügt zudem über Ukrainisch, was die Abfertigung enorm beschleunigt, das Gepäck wird nur gesichtet, nicht aber besichtigt. Völlig überraschend ist es, dass die Ukrainer über die Grenze schaffen, was sie tragen können und was grade noch legal ist – ein Umstand, derenthalben die Kontrollen scharf und detailliert sind, gibt es doch professionelle Grenzgänger auf beiden Seiten: die Ukrainer exportieren Schnaps und Zigaretten, bieten beides auf der polnischen Seite feil, kaufen vom Erlös Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs. Diese sind überraschenderweise in der Ukraine schmerzlich teuer, obschon die Löhne, wenn man denn überhaupt welche hat, einen Bruchteil der polnischen ausmachen. Der Grund ist simpel: die Ukraine gehört den Oligarchen. Für diese ist es lukrativer zu importieren denn zu produzieren. So wird schon mal eine Milchfabrik einzig zu dem Zweck gekauft sie stillzulegen. Eine Katastrophe, völlig unabhängig davon, wessen Fähnchen die Regierung gerade schwenkt.

Man muss an dieser Stelle eine kleine Pause einlegen und sich das erneut vor Augen halten: die Ukraine, dieses riesige, reiche und fruchtbare Agrarland, importiert Lebensmittel aus Polen! Sowohl auf offiziellem Wege dem Profit wegen, als auch über den kleinen Grenzverkehr, durch privates Engagement, weil es den Geldbeutel schont. Lidka sagt, sie hätte erstmals realisiert, dass Polen mittlerweile vergleichsweise reich sei, als die ersten Arbeitsmigranten aus der Ukraine eingetroffen wären – um täglich zwölf oder sechzehn Stunden lang einen Kiosk zu bewirtschaften, für 1500 Zloty im Monat. Polen würden das nicht mehr machen, nicht für kaum 400 Euro, ohne Sozialversicherung, Urlaub und all das.

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Marshrutka nach Lemberg

„Ameisen“ nennt man auf polnischer Seite diejenigen, die sich nicht scheuen, die Grenze mehrfach zu überqueren, aus dem polnischen Kleintransporter Fleischwaren entnehmen, um den ukrainischen Schritt für Schritt zu füllen und auf Lembergs Straßen aus dem Wagen heraus bessere Preise anbieten zu können als es sonst der Fall ist. Das aber machen nur die Professionellen, deren Erwerb aus dem Preisgefälle besteht. Die große Mehrzahl der Grenzgänger aber ist rein privat unterwegs: um den Erlös aus einer Flasche Schnaps und ein paar Zigarettenschachteln zu investieren und ein paar Kilogramm Waschmittel günstiger zu bekommen. Um ein oder zwei Dutzend polnische Industriewürste abzugreifen wird Weg und Zeit ebenso in Kauf genommen wie der Grenzstress, das Warten, das Sich-Erklären, die Stempel im Pass. Mit einem Wort: die Ressource Geld ist knapp in der Westukraine, die Ressource Zeit ist es nicht. Dass aber der Warenverkehr überhaupt in dieser Richtung verläuft: von industrieller Seite zur agrarischen, das wird mir noch tagelang zu denken geben.

Die Hintergründe all dessen aufzuklären hab ich nicht wirklich den Durchblick, eine Ahnung jedoch schon. Der Eindruck bleibt: ich reise in ein feudal betriebenes Land. Keine Revolution, keine Inthronisierung von Gefolgsleuten, die auf der dieser oder jener Gehaltsliste von diesem oder jenem  Dienst stehen, hat das bisher ändern können oder auch nur wollen. Aber dass sie auf der Liste stehen, dieser oder jener, dass ist gewiss.

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