Krakau: nicht nur deshalb sondern auch wegen

Krakau, alte Liebe, 1993 war ich zum ersten Mal dort. Mit der Schule, denn unser Deutschlehrer hatte die Initiative ergriffen: Werner Veh, Gott hab ihn selig, jetzt sitzt er mit verschränkten Armen im Himmel, leicht vornübergebeugt, raucht Kette, weil er das dort darf, und erzählt den Engeln Geschichten über Geschichte.
– Leute, hatte er gesagt, was wollt ihr in Rom, in London? Lasst uns nach Krakau fahren!
Zwölf Schüler, zwölf Renegaten fuhren im Kleinbus über die gerade aufgelöste Tschechoslovakei nach Südpolen, in das ehemalige österreichische Kronland Galizien, in die ehemalige Hauptstadt des Königreichs Polen: Unbekannter Osten, Terra Incognita.

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Andrzej Wajda hatten wir auf dem Rynek getroffen, aber wer zum Teufel ist Andrzej Wajda? Mit Wislawa Szymborska waren wir zum Tee verabredet, aber wer ist das nur? Mit achtzehn weiß man nichts von der Welt, soviel ist klar, denn die Welt braucht Zeit, viel Zeit, und bleibt doch immer weit und unergründlich, Schichten liegen über Schichten und nie weiß man genug. Aber es geht ja nicht um Informationen, sondern hauptsächlich um Eindrücke, und beeindruckt waren wir, von dieser Stadt, von diesem Leben, von dieser nahen, ganz andersartigen Welt. Gerade mal ein Jahr später war ich schon zurück in Krakau, nach dem Abitur mit einem bunten VW-Bus auf Tour.

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Krakau, alte Liebe, 2003 war ich zum letzten Mal dort, hatte einen Studentenaustausch organisiert und wir fuhren Fakultäten und Lager ab, germanisches Pflichtprogramm. Neu in der Florianska war der McDonald, neu am Rynek der Irish Pub und die Musikkneipen. Jetzt, 13 Jahre später, hat sich die Welt gründlich gewandelt, die Städte sind zu Vergnügungszentren geworden, in Gdansk, in Poznan und in Krakow haben die gleichen Ladenketten aufgemacht, auf dem Hauptplatz tanzt eine Mickey Mouse die Kinder an, verkauft ein Luftballonverkäufer bunte Luftballons, surren elektrische Mehrsitzer kreuz und quer, Lautsprecher sagen in tausend Sprachen an, wohin die Blicke zu richten sind und warum. Die Stadt ist nur noch Kulisse für das immergleiche Geschäft mit Eiscreme, mit Burgern, mit standardisierten Stadtbesichtigungen und hektischen Ausflügen: Krakau in drei Stunden für 39, nach Zakopane für nur 129, nach Auschwitz für sage und schreibe 99 Zloty.

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Gearbeitet im Sinne von gefertigt wird in der Stare Miasto nicht mehr, kein Schuster, kein Schreiner, kein Schneider mehr in der Altstadt, kein Antiquariat und keine kleinen Läden, nurmehr die Ketten und Boutiquen. Ausschließlich die Kawiarna Jama Michalika hat überlebt. Dieses dustere Jugendstil-Kaffeehaus ist so out, dass drinnen nur die Alten sitzen, Kuchen zum Kaffee mit Schlagobers nehmen. Hier ist Wien, hier ist immer noch Galizien, während draußen an jeder Ecke der majestätischen Stadt bunte Ufos gelandet sind, mit Tentakeln in den Straßen nach den Menschen greifen, sie von Wichtigerem abzulenken.

Wer hat gesagt, der Kapitalismus sei bunt? Ist er nicht, das Licht und das Blinken ist nur sein Anstrich, sein Schein. Grau ist er in Wahrheit, gefräßig und zerstörerisch. Und vor allem ist er eines: langweilig, entsetzlich langweilig.

 

 

Wisława Szymborska: Das Schreiben eines Lebenslaufs

Was ist zu tun?
Ein Antrag ist einzureichen,
dazu ein Lebenslauf.

Ungeachtet der Länge des Lebens
hat der Lebenslauf kurz zu sein. Geboten sind Bündigkeit und eine Auswahl von Fakten.

Die Landschaften sind durch Anschriften zu ersetzen
labile Erinnerungen durch konstante Daten.
Von allen Lieben genügt die eheliche,
nur die geborenen Kinder zählen.
Wichtig ist, wer dich kennt, nicht, wen du kennst.
Reisen, nur die ins Ausland.
Zugehörig wozu, aber ohne weshalb.
Preise, ohne wofür.

Schreibe, als hättest du niemals mit dir gesprochen
und dich von weitem gemieden.
Umgehe mit Schweigen Hunde, Katzen und Vögel,
den Erinnerungskleinkram, Freunde und Träume.
Es gilt der Preis, nicht der Wert,
der Titel, nicht dessen Inhalt,
die Schuhgröße, und nicht wo
der Mensch, für den man dich hält, hingeht.
Dazu eine Fotografie mit entblößtem Ohr.
Wichtig ist seine Form, nicht, was es hört.
Was es hört?
Das Knirschen des Papierwolfs.

(Pisanie ż yciorysu, 1986)
Aus: Wisława Szymborska. Die Gedichte. Hrsg. und übertragen von Karl Dedecius.
Frankfurt (Main): Suhrkamp1997

 

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