Point of return: Cherkassy

Ich war von Lehedzyne, anstatt auf direktem Weg nach Kiew zurückzukehren, nach Cherkassy aufgebrochen, weil ich den Dnjepr sehen und im Anschluss an die Zeit im Dorf eine Zwischenetappe einbauen wollte, vor der Rückkehr in den Wahnsinn der großen Städte. Wir hatten kilometerlange Sonnenblumenfelder passiert, Ebenen voller Mais, Kleinstädte mit großzügig dimensionierten Busbahnhöfen und weitläufige Dörfer, die mehr als einen Tagesmarsch voneinander entfernt liegen, bevor uns die Marshrutka weit draußen vor der Stadt entließ.

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Im Hotel Dnjepr war ich  wieder mal der einzige Gast – ich habe ein Talent dafür, mir Hotels auszusuchen, die in der Zeit stehen geblieben sind und von Touristen und Handelsreisenden gemieden werden. Belohnt wird man dafür mit der Grandezza des real existierenden Sozialismus, mit einer Atmosphäre aus Agententhriller und Diplomatenempfang. Und mit einem ebenso ausgiebigen wie komplett ungenießbarem Frühstück. Wenig hat sich hier in den letzten zwanzig Jahren geändert, was allerdings der Vergangenheit angehört, ist der versprochene und beworbene Blick auf den Dnjepr. Das einzige, was man vom Fenster aus sehen kann, sind die Wohnblocks, mit denen dessen Ufer mittlerweile zugebaut wurden.

Es gibt ein paar Orte, an denen mich das Gefühl befiel, dort sei Schluss, dort wäre der Westen definitiv zu Ende, weiter die Aufklärung nicht gekommen. Cherkassy gehört zu diesen Orten, ebenso der Plage Blanche in Marokko sowie das georgische Kachetien. Selbstredend ist das eine komplett persönliche Einteilung der Welt, aber das heißt nicht, dass sie beliebig ist, sie ist lediglich subjektiv, keinen geographischen, keinen politischen Kategorien verpflichtet, sondern dem Eindruck und der Erfahrung – welches beide natürlich Gefäße sind, die immer nur ungenügend gefüllt werden können, die stets halb leer bleiben.

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Was also ist an Cherkassy so anders, dass mit Blick auf die Weite des aufgestauten Dnjeprs auf die Idee komme, hier sei das Ende meiner Welt? Liegt es daran, dass sich der Vorhang der Sprache endgültig gesenkt hat, dass weder mit Englisch noch mit Radebrechen weiterzukommen ist? Am Plage Blanche war es ein Fischer, in dessen Hütte ich unterkam, der nurmehr Berber und Arabisch sprach, kein einziges Wort Französisch. Dazu kam, dass ich mit dem Auge die Farben und das Ausmaß des Plage Blanche nicht mehr begreifen konnte. Ich erinnere mich, wie ich von der Anhöhe zum Meer gehen wollte, durch den Gürtel an Salzpflanzen und über die Dünen. Erst eine halbe Stunde später kam ich an, verblüfft, wie das Augenmaß sich so verrechnen konnte. Der Fischer hatte mich im Gebetsraum der Wellblechhütte einquartiert, mir Brot, Thunfisch und ein gekochtes Ei zu essen gegeben. Der abendliche Himmel wäre Schauspiel genug gewesen, dazu aber kam der endlose Strand und der Glanz des Meeres. Ich weiß noch wie ich dachte, hier also beginnt Afrika.

Auch in Kachetien war Schluss mit der Sprache, ergänzt von asiatischen Bakterien, an die sich mein Verdauungstrakt erst mühsam gewöhnen musste, sowie einer Vegetation, die so verblüffend und spektakulär war, dass ich aus dem Auto heraus einzelnen Bäumen nachstarren musste. In Tiflis hatte es europäische Tage gegeben und asiatische, je nach Lichtverhältnissen und Verwirrungsgrad. In der Ebene Kachetiens, deren Flußläufe allesamt nach Aserbaidschan hinüber führen und im kaspischen Meer münden, wurde mir klar: hier beginnt Asien.

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Warum also ein ähnliches Gefühl in Cherkassy wie am Plage Blanche oder in Kachetien? Genau weiß ich es nicht. Es ist großartiges Wetter, der Sommer bäumt sich auf, am Dnjeprufer fegt ein kräftiger, süßer Wind, das Wasser schlägt Wellen. Liegt es daran, dass die Stadt schachbrettartig aufgebaut und von sozialistischer Moderne geprägt ist, dass die wenigen Jugendstilhäuser vernachlässigt und vereinzelt stehen, keinen Zusammenhang ergeben, keinen Einblick zulassen, wie Cherkassy vor der russischen Revolution aussah? Die noch fernere Vergangenheit der Stadt besteht aus Holzbauten, welche entweder schon lange verwittert sind oder aber im Wasser des Kamentchuk Stausees verschwunden. Dass der MacDonalds mit Abstand das beliebteste Restaurant der Stadt ist und vermutlich auch in Sachen Lebensmittelsicherheit führend, erzeugt bei mir eher Befremden denn ein Gefühl von Vertrautheit. Seit Wochen lebe ich vegetarisch, weil ich den verschiedenen Wursterzeugnissen, den angeblich fleischhaltigen Füllungen von Pelmeni, den sonderbar rosaroten Lappen auf Pizzen, den Kochschinkenverschnitten in Broten und Brötchen nicht nur kein Vertrauen schenke, sondern darüberhinaus mit körperlichen Abwehrmechanismen begegne. Ich habe mich auf die Seite von Kartoschka geschlagen, wo sie ist kann auch ich sein. Und ich liebe die tägliche Wassermelone, was tat ich nur in den Sommern ohne sie?

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Vor mir also der große Fluss und die Überzeugung, dass hier ein Ende erreicht sei, dass ich diesen Fluss nicht mehr überqueren würde. Nichts neues würde beginnen, eher ist mir, als hörte etwas auf. Weiter nach Osten zieht es mich nicht, genau hier liegt der Punkt der Umkehr, das denke ich.
Aber schon am nächsten Tag löst sich dieses Gefühl in Nichts auf, wird von der Wirklichkeit konterkariert, als sich nach langen Verhandlungen und mehreren Anläufen herausstellt, dass Kiew auf direktem Weg nicht zu erreichen ist, dass der einzige Weg erst über den Dnjepr und dann die Straße am jenseitigen Ufer entlang führt – die schlechteste Straße der gesamten Ukraine, so sagt man in Kiew und übertreibt damit gewiss ein wenig.

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