Wälder und Seen: der Birgitan Polku
Man kann sich ja so täuschen, da kann man machen was man will, eigentlich liegt man immer daneben – mit seinen Annahmen, Mutmaßungen und Vorurteilen. Mit wieviel Aufwand wir Prognosen erstellen oder Voraussagen, wie wichtig uns Hochrechnungen sind auf das Unberechenbare, auf das, was eh immer anders kommt, grundverschieden ist von dem, was wir dachten. Ich dachte, Südfinnlands Wälder würden schon nicht so anders sein als die brandenburgischen, ich ging stillschweigend von der Annahme aus, die Waldseen seinen den mecklenburgischen ganz sicherlich vergleichbar. Dann ging ich in die Wälder und den Weitwanderweg Birgitan Polku: Oh, heilige Natur!
Der Birgitan Polku ist ein gut markierter, etwa fünfzig Kilometer langer Rundwanderweg südlich von Tampere, benannt nach der Kirche der heiligen Birgita in Lempäälä. Ein Spaziergang wie auf den Forstwegen um Berlin herum ist es jedoch ganz und gar nicht, es ist viel mehr durchaus schwieriges Terrain, mancherorts ist der Pfad steinig, führt dann wieder auf Planken über Moorlandschaften hinweg, durch dunkle Waldstrecken und über lichte Heidelandschaften. Die moosigen Partien sind mit Blaubeeren übersäät, auf den Lichtungen stehen wilde Himbeeren, kleinwüchsig und die Früchte von würziger Süße. Winzige Walderdbeeren finde ich immer wieder am Wegesrand und ebenso zahlreiche Pilze, welche ich aber mangels Kenntnis stehenlassen muss.
Mit Ausnahme der Pilze scheint vieles eine verkleinerte Form der mitteleuropäischen Artverwandten zu sein, manche Nadelbaumarten bleiben mannshoch, der Farn fällt ebenso filigran aus wie die vielerlei hell schimmernden, zierlichen Flechten. Winzige Frösche gibt es, die dunkel, fast schwarz geraten sind, genauso wie die gleichfalls winzige Salamanderunterart.
Zahlreiche Findlinge überall, von den abschmelzenden Gletschern liegen gelassen, machmal vereinzelt und riesengroß, dann wiederum Felder an runden, bemoosten Steinen, hingeworfen wie Murmeln; Bodenhebungen und feuchte Senken, dunkles Moor, blühende Heide, lichter Birkenwald und dustere Tannen. Nichts von diesem abwechslungsreichen Spiel der nördlichen Moränenlandschaft hatte ich von der Bahn aus erahnt, nichts davon vom Auto aus gesehen. Hart geht es über durchwurzelte Strecken, wassergesättigt ist das Moos, weich und nachgiebig die Ufer der Seen, festes Land und Wasser gehen auf dem Birgitan Polku ineinander über.
Abends dann, wenn man denn von Abend reden mag, denn nichts weist auf den fortgeschrittenen Tag hin, finde ich unverhofft einen Grillplatz am See. Aber was heißt Grillplatz? Wir wären nicht in Finnland, gäbe es nicht zugleich eine fest verankerte Grillvorrichtung sowie einen ganzen Schuppen mit Holzvorrat. Timo hatte darauf bestanden, dass ich Grillgut mitnähme, es würde sich sicherlich etwas finden, und es fand sich. Nicht nur das, ich habe zudem sagenhaftes Glück mit dem Wetter, bin aber leicht verwirrt ob der Lichtverhältnisse: Schon seit Tagen fällt es mir schwer, in den Schlaf zu finden. Bis weit in die Nacht sitze ich also abwechselnd am See und am Feuer, Wildgänse landen im Wasser, irgendein größeres Säugetier sucht gallopartig das Weite, ohne dass ich es zuvor erspät hätte. Auch die Tierwelt schläft nicht, nur die Mücken haben sich verzogen. Dunkel wird es nicht, nur dunkler wird es gegen Mitternacht, heller schon wieder ab zwei.
Ich erwache um neun, wesentlich später als gedacht. Kein Menschen- oder Autolärm weit und breit, auch die Natur ist fast still, Singvögel sind kaum welche und ein morgentliches Konzert gibt es schon gar nicht. Ein bisschen ärgere ich mich, wollte ich doch schon früh unterwegs sein. Aber dass ich so lange geschlafen habe wird sich als großes Glück erweisen, denn als ich am frühen Nachmittag Lampäälä erreicht habe, ist der Himmel zugezogen, und Nieselregen setzt ein, der sich wenig später zum Landregen verstärkt. Hinter Lempäälä geht es weiter in die Wildnis, zwar gibt es dort in kurzen Abständen Schutzhütten, aber alleine und durchnässt bei grauem Wetter durch eine Landschaft zu streifen, die selbst sofort grau und dunkel wird, sobald das Licht fehlt, ist keine schöne Aussicht.
Ich beschließe also, das Wettergeschehen erst einmal zu beobachten und die Stadt anzuschauen. Lampäälä ist auf den ersten Blick nicht gleich als dieses erkennbar, es kann gut sein, dass man am Zentrum vorbeiläuft, während man es sucht. Die 20.000 Einwohner haben sich so gut es geht verteilt, hier ein Haus, dort eine Siedlung, und die Konzentration, die man als Mitteleuropäer von einer Stadt erwartet, wird nicht erreicht.
Der Regen macht ernst, Wind kommt auf und sofort wird es herbstlich kühl. Es ist kein Weiterkommen, ausgeschlossen. Welch Glück, dass ich erst hier bin und nicht schon fünf Kilometer weiter.
Ich docke mich an das Wifi eines Kioskes an, den jeder Kiosk hat hier Netz, konsultiere die Karte, und bin wohl auffällig, dann ich werde von einem älteren Herren – kurze Hose, T-shirt und Basecap – angesprochen (!), wo ich denn her sei, mir wäre wohl kalt, soviel wie ich anhätte?
– Südländer sei ich, aus Deutschland.
Die sind nämlich gar nicht so verschlossen, die Finnen, wie es immer heißt. Jedenfalls nicht hier im Süden des Landes. Sie brauchen nur Platz, sowohl an der Bushaltestelle als auch für das Antworten. Wenn man zu schnell agiert, dann geht’s nach hinten los, sobald man das aber mal verstanden hat, dann wird es richtig lustig. Die Gruß- und Dankesformeln in ihrer lokalen Form habe ich inzwischen drauf, dank Yana und Timo, und das hilft natürlich. Ansonsten spricht fast jeder Englisch, wenngleich häufig nur auf verhaltene bzw. schüchterne Art und Weise. Da hilft dann Humor: Vor ein paar Tagen bin ich in Tampere vor dem einsetzenden Regen in eine Bar geflohen, hatte anschließend die Regenpause genutzt, um meine Besorgungen zu erledigen, war auf dem Rückweg erneut in dieselbe Bar eingekehrt, wiederum wegen heftigen Regens. Ich zum Barkeeper: Ich sei doch inzwischen gewissermaßen Stammgast, da wäre doch bestimmt ein Rabatt drin. Der Barkeeper verzieht keine Miene, zapft wortlos diesselbe Biermarke wie eine Stunde zuvor, stellt das Glas auf den Tresen und sagt: “On the house.“
Man kann sich natürlich auch verrennen. Wie in der Kneipe am Ortseingang von Hakkari zum Beispiel, wo ich gegen Mittag lande – nach der am See verbrachten Nacht und auf der Suche nach Kaffee. Kindergärten, Supermärkte, Kneipen wie auch kirchliche Räumlichkeiten sind aus organisatorischen Gründen gerne im gleichen langgestreckten Flachgebäude untergebracht, davor ein großer Parkplatz, im Hintergrund eine Handvoll mehrstöckige Wohnhäuser, danach Wald. Als ich eintrete dreht sich ein halbes Dutzend Köpfe langsam nach mir um und ich werde minutenlang fixiert.
– Moinsen! Schiettwetter, wa? Sagt mal, gibt’s hier anständigen Kaffee?
High noon in Hakkari. Und ich bin Lucky Luke.
Tutorial: wie man in Finnland korrekt auf den Bus wartet…