Berlin-Friedrichshain: Herz der Finsternis

Zurück in Berlin, auf Besuch in meinem Kiez und ich weiß, der Krisenherd ist definitiv dort zu finden, wo ich wohne (oder sollte ich schreiben: wohnte?).
Schon das Schlesische Tor ist ein erster Kreis der Hölle, die Warschauer Brücke der zweite, der Technostrich der Revaler der dritte. Das absolute Zentrum aber, das leere Herz schlägt an der Ecke Wühlisch und Simon-Dach-Straße. Dort trifft alles zusammen: synthetische Drogen auf Alkoholismus, Dealer auf dänische Touristen, Schulausflügler auf Hostelbewohner. Pulkweise schieben sie sich durch die Straßen, während zwanzig oder mehr Touristen sich ungelenk auf Leihfahrrädern über das Pflaster bewegen. Die Gastronomen kochen ihr billiges Süppchen und lassen keinen Meter aus, die Hunde werden verrückt, die Ratten leben im Paradies und vermehren sich redlich.

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All das Treiben, das Saufen und Konsumieren, das Ausschweifen und Verlustieren, baut sich über die Nachtstunden immer weiter auf, bricht dann mit dem höchsten Pegelstand lautstark in sich zusammen und zieht ein langes Echo grölender Männerstimmen und krakeelender Weiber nach sich, welches erst gegen vier oder halb fünf morgens in den Hinterhöfen verhallt. Dann kommen auch die ersten Verstrahlten aus den Clubs der Revaler, Zombies auf der Suche nach Essbarem. Die Haupttätigkeit, wenn man hier wohnt, ist das Ausblenden, das Abschotten. Es ist kein Zufall, dass sich so viele Leute nur mit Kopfhörern durch die Straßen und in den Öffentlichen bewegen. Man will nicht wahrnehmen, man will möglichst nicht wahrnehmen und fährt alles Denkbare auf, um bei sich zu bleiben.

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Dies alles ist weit mehr als nur eine Zumutung, mehr als nur ein unschönes Umfeld. Es hat auch nichts mit Großstadt zu tun und nur am Rande mit Berlins Beliebtheit. Vielmehr sind dies Zeichen eines gesellschaftlichen Zerfalls, einer Verrohung, eines Rückzuges der Normen und Regeln, der Höflichkeit, der Freundlichkeit, der Rücksicht. (Brecht hat einmal „Freundlichsein“ in seine Liste der „Vergnügungen“ mit aufgenommen.)
Das Fest, die Feier, das ist die kollektive Übertretung, der kollektive Regelbruch. Wenn aber das Fest alltäglich geworden ist, dann verschwinden die Regeln, dann senkt sich langsam der Boden, das Niveau auf dem wir leben, auf dem zivilisatorische Errungenschaften aufbauen.
Eigentlich, das hatte Doreen einmal gesagt, eigentlich müssten wir zusätzlich zu unserem normalen Einkommen eine Art Darstellergage bekommen: als Weinverkäufer und Kellnerin auf der Simon-Dach! Zu finanzieren, indem eine Mauer um Friedrichshain herum gebaut würde (Teile der alten könnte man ja noch nutzen), um Eintritt zu verlangen. Benutzungsgebühr. Kotzpauschale. Pinkelsteuer. Um zwei Uhr nachts würde Friedrichshain dann schließen, das Rollkommando käme und würde die verbliebenen Zugedröhnten zurück in Hostels jenseits des S-Bahn-Rings befördern. Der Plan ist gut, das Problem wäre nur, dass das Rollkommando nie kommen würde, nicht in Berlin. Der Stadt ohne Sperrstunde, ohne Flughafen, der Stadt der Bauzäune und Absperrgitter, deren Regierender Bürgermeister diese vorangestellte Erläuterung seiner Jobbezeichnung wirklich braucht, weil es sonst so leicht übersehen werden könnte.

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Der Begriff öffentliche Ordnung wird erst dann greifbar, wenn sie keiner mehr gewährleistet. Begonnen hatte es in den Neunzigern mit Grünflächen und Rabatten. Damit, dass der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg irgendwann mal beschlossen hatte, seinen Aufgaben einfach nicht mehr nachzukommen und das Straßengrün sich selbst bzw. den Anwohnern zu überlassen. Inzwischen sieht man in Friedrichshain sogar die Polizei nur noch dann zu Fuß, wenn der Innensenator mal wieder gegen das verbliebene besetzte Haus in der Rigaer vorgeht. Ansonsten fahren sie sporadisch mit Mannschaftswagen durch die Straßen wie durch ein Ghetto in Johannisburg. Damit sie überhaupt aussteigen, bedarf es entweder einer Massenschlägerei oder eines offenen Dönerladens. Und es ist illusorisch zu glauben, die Polizei käme automatisch, wenn man sie rufen würde. Sie kommt nur wenn sie grad Bock hat – und zwar wann sie will und dann in voller Montur.

Dass man die Hochbahn-Zugänge in Kreuzberg jetzt auch schon mit lauter Dealern teilen muss, wo doch der Görlitzer Park schon lange verloren gegangen ist – ebenso wie die Hasenheide oder das RAW-Gelände – dass das Kottbusser Tor neuerdings regelmäßig und organisiert von Trickdieben heimgesucht wird, und nichts, gar nichts passiert, um das zu verhindern, um es zumindest einzudämmen, das ist eine Katastrophe. Berlin driftet ab. Das Ordnungsamt ist vollauf mit „Parkplatzbewirtschaftung“ beschäftigt, uniformierte Ex-Arbeitssuchende aus Hellersdorf und Karlshorst durchkämmen die Straßen auf der Suche nach Sündern – für alles andere haben sie keinen Blick und keine Ahnung. Ab 22 Uhr ist das Ordnungsamt außer Kraft, genauso wie die Ordnung auch. Auf dem Bürgeramt sind ihnen die Termine ausgegangen und wer nicht überfallartig sein Glück zu erzwingen sucht, der kann sich Anfang November für Ende Januar anmelden, wenn er Glück hat. Es soll aber bereits private Zwischenhändler für Amtstermine geben. Das Bauamt wiederum sperrt Probleme mit Schlaglöchern oder bröckelnden Uferbefestigungen gerne auf Jahre hinaus hinter eigens angemieteten Gitterzäunen weg. Und es passiert nichts, außer dass die Gitterzäune regelmäßig erneuert bzw. wieder aufgebaut werden müssen, weil sie von Betrunkenen umgestoßen oder Uneinsichtigen beiseite geräumt wurden.

Die jahrelangen Einsparungen und der Personalabbau machen sich dadurch bemerkbar, dass die Ämter das Elend nur noch verwalten können, aber nicht mehr wirksam dagegen angehen. Dass man in Berlin überhaupt noch Steuern zahlen muss, ist eigentlich eine Frechheit. Was aber wiederum bewundernswert akkurat, effizient und unfassbar schnell funktioniert in Berlin, das ist das Finanzamt Friedrichshain-Kreuzberg. Wann immer ich eine Frage hatte, ein Anliegen, die Kollegen waren da! Unbegreiflich.

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Was hingegen so beunruhigend ist, ist das Ausmaß von Vernachlässigung und Verarmung, welches mit der Gesamtentwicklung einhergeht. An der Warschauer Straße finden sich Grüppchen zu lebendigen Trinkinstallationen zusammen, schleifen eine Matratze herbei, fahren Zeugs mit Einkaufswägen ran. Einer macht jeweils Schicht und nötigt den Vorbeilaufenden Wegzoll ab. Es ist schwierig, ein Stück Weg zu finden, welches nicht mit Müll gesäumt ist, mit zerbrochenen Flaschen, Kronenkorken, Essensüberresten, aufgegebenen Fahrradwracks, abgestellten Kleinmöbeln. Wer einen festen Full-time-Job hat, gehört schon zur Oberschicht und fühlt sich unwohl, denn die Oberschicht ist dünn angezogen und sie hat Luft nur nach unten. Die Abstiegsgefahr hängt in den Straßen wie früher der Kohlengeruch. Jeder, der in Berlin lebt, atmet Prekariat ein, will es aber nicht wahr haben, strampelt und macht und arbeitet hart an der Distinktion. Jung zu bleiben oder sich jung zu geben ist in Berlin vor allem dann einfach, wenn man nicht so wirklich weiterkommt.

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Während sich der nächste Bärtig-Bemützte einen cold-brewed Kaffee am Tresen bestellt, zahlen sie der englischsprechenden Servicekraft nurmehr drei Euro die Stunde, denn der Rest ist Trinkgeld. Die bunten Transportwürfel der konkurrierenden Lieferdienste, deren Personal das eigene Fahrrad mit zur Schicht bringen muss und als Freiberufler abrechnet, befördern lauwarmes Essen durch die Gegend: Weil keiner mehr kocht, weil keiner mehr normal kocht, weil man entweder zu erschlagen vom Job kommt und das Einkaufen eine zusätzliche Zumutung wäre, oder wenn man überhaupt kocht, dann aber auf jeden Fall etwas Raffiniert-Veganes, Dry-aged-irgendwas oder Pulled-Dingens fabrizieren möchte, etwas Außergewöhnliches – anstatt, sagen wir, eine anständige Pasta oder aber eine Erbsensuppe für drei Tage im Voraus. Weil überhaupt nichts mehr normal ist, weil die Extreme das Gewöhnliche längst überwuchert haben.

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Wem das Wort von Ingeborg Bachmann übertrieben scheint, dass der Krieg nicht mehr erklärt würde, sondern fortgesetzt, und das Unerhörte alltäglich geworden sei, der besuche Berlin-Friedrichshain, der Satz wird sich dort schnell entschlüsseln.

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