Mestia: Ushba revisited
Nach Mestia zu gehen, das war eigentlich nicht der Plan. Und auch nicht, noch mal gen Ushba aufzusteigen. Aber so sind sie, die Tage dazwischen, sie nehmen dir die Entscheidung ab. Nachdem der Regen wieder eingesetzt hatte und ich meine Zeit erneut in Kobuleti verbrachte, wurde es mir nach ein paar Tagen dann doch zu bunt. Ich beschloss abzureisen, ganz egal ob nach Batumi oder mit dem Zug nach Tbilissi, und bedeutete Amiran, dass ich anderntags nun aber wirklich weiterziehen wolle.
– Und wohin?
– Hm, weiß nicht.
– Am Dienstag fahre ich zwei Touristen nach Mestia. Komm doch mit!
Mestia liegt in Swanetien auf 1400 Metern, am Fuße des Ushba bzw. am Hauptzug des Kaukasus. Anfang März war ich schon einmal dort gewesen und war just dann in die Berge, als die Schneeschmelze eingesetzt hatte und an ein vernünftiges Fortkommen nicht zu denken war. Im Gegenteil, es war ziemlich unvernünftig, dort überhaupt hinauf zu gehen. Jeder Gang auf einen Berg birgt eine Lehre, damals war die Lehre gewesen, wie wichtig es ist, rechtzeitig aufzugeben. Ich war irgendwo im Eis gestanden, halb eingesunken in den wässrigen Schnee, von den markanten Doppelspitzen des Ushbagipfels war kaum etwas zu sehen gewesen.
Früh um halb sieben fahren wir in Kobuleti los, schon um halb elf sind wir in Mestia. Die Russen haben einen Tagesausflug gebucht, entsprechend zügig geht Amiran zu Werke: Erst mit dem Sessellift hinauf zum kleinen Skigebiet, dann ins Museum und schließlich das Haus von Mikhail Chergiani, einst der berühmteste Bergsteiger der Sowjetunion. Geschwind die Stube besichtigen, dann durch die Ausstellungsräume, dann noch hinauf auf den Wehrturm. Es ist ein kleiner Witz, dass man auf den Wehrtum nur über zwei ziemlich lange Holzleitern kommt, also hinauf klettern muss. Nein, ganz schwindelfrei bin ich nicht.
Nach dem Essen in strahlendem Sonnenschein trennen sich die Wege, ich bleibe in Mestia und suche mir eine Unterkunft. Sobald die Sonne geht und sie verschwindet früh hinter den hohen Bergen, wird es bitter kalt. Der kommende Tag wird wolkenlos sein, strahlend schön, und es ist beschlossene Sache, dass ich gen Ushba gehe. Ich breche erst auf, als die Sonne den Raureif aus dem Tal weggeschmolzen hat, und nehme den gleichen Weg wie zuvor schon. Schnee liegt diesmal keiner, aber es bleibt steil und anstrengend und ich bin froh auf das äußerst üppige swanetische Frühstück verzichtet zu haben. Der blendende Schnee auf den Gipfeln, der blaue Himmel, die dunklen Tannen und Fichten, die herbstlich entflammten Laubbäume: die Ausblicke sind gnadenlos schön. Erst hinter der ersten Bergkuppe ändert sich das Bild, es ändert sich gewaltig. Keine Bäume mehr, keine Sträucher, nur noch Schnee und Fels.
Die Lektion hole ich mir erst auf dem Rückweg ab, indem ich beschließe, einen anderen Weg in das Tal zurückzugehen. Der Pfad wird steiler und steiler und führt nicht in die Richtung, die ich vermutet hatte. Ein Grat und undurchdringliches Waldland trennen mich von einem offiziellen Pfad. Es hilft nichts, Umkehr wäre zu ermüdend, ich muss weiter hinunter. Ungefähr hundert Höhenmeter, dann ist die Verbindung zum anderen Pfad wieder gegeben. Es werden hundert Höhenmeter, die ich teilweise auf allen Vieren hinunterrutsche, teilweise festgeklammert an Äste oder Sträucher den nächsten Schritt setze. Ich schlittere mehr auf dem feuchten Boden als dass ich gehen würde und komme schlammbedeckt unten an.
Drei Männer sitzen am Dorfeingang zusammen, als ich aus der falschen Richtung auftauche. Ich grüße, sie grüßen, sie winken mich heran, füllen mir das Glas Chacha voll und beschweren sich, dass ich es nicht auf einen Zug leere. Ich insistiere, dann greift einer, nachdem er mein Glas aufgefüllt hat, zur georgischen Geheimwaffe, dem Trinkspruch: Auf die Freundschaft und auf uns, so wie wir hier sitzen! So ein ganzes Glas Chacha, nach einem Gang auf den Berg, Freunde der Völkerverständigung: Das zündet!