Die Brücke über die Vjosa
Ein kleiner Ausflug steht an, nur ein paar Kilometer bergauf, ins Geburtsdorf von Ali Pasha. Ich weiß, dass es dort nichts zu sehen gibt, dörfliche Strukturen haben eine viel kürzere Halbwertszeit als Stadthäuser oder gar Festungen. Letztere lassen sich nicht so schnell kleinkriegen, auch nicht durch ein Erdbeben wie das von 1920, das ganz Tepelene mit Ausnahme der Festungsmauern dem Erdboden gleich gemacht hat, wieder einmal.
Bereits Edward Lear berichtet 1809 von Verwüstungen, nicht den ersten und nicht den letzten, weil jede Armee seit den Cäsaren hier vorbeigekommen ist. Mag sein, dass es auch deswegen bis heute keine Brücke gibt über die Vjosa, nur eine Hängebrücke. Tepelene war nie Handelsstadt, Tepelene diente Jahrhunderte lang dazu, Fremde aufzuhalten. Ein lokaler Aberglaube besagt, dass die Stadt jedesmal vor der Zerstörung stünde, sobald sie mehr als hundert Gebäude zählen würde. Es wäre also mal wieder an der Zeit: Den letzten Aufstand hat Tepelene im Jahre 1997 gesehen, als von hier aus gegen die Regierung oder vielmehr das System Sali Berisha zu den Waffen gegriffen wurde.
Ali Pashas Festung bzw. was davon übrig ist, ist nur aus der Ferne massiv und beeindruckend. Das obere Tor ist im Vergleich zur Höhe der Mauern wie ein verstecktes Mauseloch und wird von Jugendlichen als als Fußballtor benutzt.
– Hey Mister? How are you?
Ich soll eine Runde mitspielen, ziehe also meine Puschen aus und trete barfuss an, versage aber kläglich im Fünfmeter-Schießen. Auch mein Gegenspieler zeigt Abschluss-Schwächen, 0:0 gehen wir auseinander, ich ins Innere der Festung. Und siehe da: Gärten, Reben, Wassertanks, kleine Häuser, Blumen, Feldwege. Nichts ist übrig von Ali Pashas Feste, rein gar nichts bis auf die Umauerung: In Tepelene gibt es ein Dorf, das liegt inmitten der Stadt auf einem Plateau, welches von Festungsmauern umrandet ist! Mir scheint das ein Zeichen für friedlichere Zeiten und dafür, das die Hundert inzwischen überschritten werden darf.
Aber wie gesagt: kleiner Ausflug hinüber über die Vjosa steht an, denn ich muss natürlich unbedingt über die Hängebrücke, welche Schul- und Transportweg nach Beçisht ist. Beçisht liegt gegenüber Tepelene auf halber Höhe am Berg, und ich will hinuntersehen, vom Adlerhorst auf das Flusstal, auf die Festung und die palatti von Tepelene. Aleks Onkel hatte sich anerboten, mir den Weg zu zeigen, und ließ sich das auch nicht nehmen, obschon ich ausführlich signalisiert hatte, dass ich den Weg schon finden würde. Daher steht er um Punkt sieben vor meiner Tür und nimmt mich auf dem Moped mit hinunter in die Stadt. Ich bewege mich also früh morgens über die Vjosa und über die Hängebrücke, welche nachfedert und jeden meiner Schritte wiedergibt. Eine gute Stunde später bin ich schon in Beçisht, wo ich allerdings rein gar nichts zu suchen habe. Die wenigen Menschen, denen ich begegne, bleiben auf Distanz, weichen meinen Blicken aus, ich glaube fast, sie halten mich für einen Fremden.